Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe. Peter Urban
im Bett eines fast unbekleideten Mannes findet. Lasse uns ein andermal weiterreden und verschwinde brav zurück in dein Zimmer.«
Folgsam erhob Charlotte sich von der Bettkante und ging zur Tür, die auf die Veranda führte. Als sie fast schon im Freien war, drehte sie sich noch einmal um. »Versprich mir, dass du Papa um Erlaubnis fragst.« »Ich verspreche es. Du hast mich überzeugt«, erwiderte der Kommandeur des 33. Infanterieregiments Seiner Majestät.
Kapitel 6 Zu fernen Ufern
Es geschah genauso, wie Sir Edwin Hall es angekündigt hatte: Der britische Generalgouverneur in Kalkutta, Sir John Shore, befahl Oberst Wesley an einem Sonntag dringlich nach Fort William. Das Gespräch fand nicht, wie ansonsten üblich, unter vier Augen statt: Arthur stand vor sechs Männern – den sechs wichtigsten Männern in Britisch-Indien. Nach einigen sehr förmlichen einleitenden Worten des Generalgouverneurs nahm Arthur seine Befehle in Empfang. Er hatte nicht nur in der Sache des Nachrichtendienstes gesiegt, er hatte die Gentlemen auch von seinen Vorschlägen überzeugt, was die Artillerie betraf. Vor allem aber hatten sie seinem Plan für einen Militärschlag gegen Spanisch-Manila zugestimmt.
Es war so viel auf einmal, dass dem jungen Offizier schwindlig wurde. Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es ihm, auf butterweichen Knien weiter vor den sechs Männern strammzustehen und mit ernstem Gesichtsausdruck zu erklären, dass er seine Befehle verstanden hatte und genau auszuführen gedachte.
Als man Wesley aus dem Amtszimmer des Generalgouverneurs entließ, musste er sich erst einmal für ein paar Minuten in eine ruhige Ecke setzen, um seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es war eine gewaltige Verantwortung, die innerhalb der kurzen Zeitspanne von nur fünfzehn Minuten – so lange hatte die Audienz bei Sir John gedauert – in seine Hände gelegt worden war. Das letzte Papier, das sie ihm feierlich überreicht hatten, war der Marschbefehl für Penang.
Er ritt im Schritt und am langen Zügel zurück zu den Kasernen seines Regiments. Als die beiden Wachposten ihren Kommandeur begrüßten, konnte dieser in der Ferne bereits ausmachen, wie seine Männer exerzierten. Auch am Tag des Herrn gab Wesley ihnen nicht frei: Er selbst hatte nichts mit Gott im Sinn, und was seine Soldaten betraf, war er davon überzeugt, dass eine ordentliche Ausbildung ihnen auf dem Schlachtfeld mehr helfen würde als alle Stoßgebete.
Er lenkte sein Pferd auf die lange Reihe im roten Rock zu. Als Sir John Sherbrooke den Freund bemerkte, befahl er laut: »Habt Acht! Der Kommandeur!«
In einer einzigen Bewegung schlugen die Männer die Hacken zusammen und präsentierten die Gewehre. Arthur zügelte seinen Goldfuchs. Lange betrachtete er seine Soldaten schweigend. Die Männer verharrten regungslos. »Rühren!« befahl er ihnen leise. West, Shee, Sherbrooke und die anderen Offiziere mussten sich meist mit lauten Worten Aufmerksamkeit verschaffen. Arthur konnte flüstern – die Männer gehorchten.
Jeder von ihnen hatte mehr als drei Dienstjahre im 33. Infanterieregiment hinter sich. Jeder erinnerte sich bis ins kleinste Detail an den grauenhaften Flandernfeldzug und daran, wie ein dreiundzwanzigjähriger Junge mit silbernen Schulterstücken sie wieder nach Hause geführt hatte: über die Weser, die Alle und die Ems, über die eisigen, verschneiten Ebenen Hollands, durch die feindlichen Linien hindurch, auf die Schanzen von Boxtel und schließlich in den rettenden Hafen von Ostende.
Den Divisionskommandeur von Wesleys Brigade hatten die Männer während all der Schrecken nicht ein einziges Mal gesehen. Er hatte sich nicht darum gesorgt, ob sie aßen oder verhungerten, ob man für die Verletzten sorgte oder ob sie krepierten. Er hatte es nicht einmal für nötig befunden, sich darum zu kümmern, dass die Männer bis nach Ostende und lebend zurück nach England kamen. Nachdem man Frederick Augustus, Herzog von York und Albany, gemeldet hatte, dass der Tross und das Gepäck des Generalstabes in Sicherheit waren, hatte der Oberkommandierende sich erleichtert von seinem unglückseligen Kriegsschauplatz verabschiedet. Der dreiundzwanzigjährige Junge im roten Rock aber hatte die Männer nicht im Stich gelassen.
Als sie krank und halb tot vor Hunger nach Irland zurückkehrten, stellte sich heraus, dass das 33. Infanterieregiment das Regiment mit den geringsten Verlusten war – und eines der wenigen, das mit einem kleinen Sieg nach Hause kam. Vor dem Flandernfeldzug hatten die meisten der rauen Gesellen im roten Rock den Jungen mit den silbernen Schulterstücken nicht ernst genommen: Ein feiner Herr, der ein bisschen Soldat spielen wollte. Doch seit dem Flandernfeldzug verehrten sie ihren Obersten. Sie wussten, dass dieser feine Herr aus gutem Hause ein wahrer Soldat war und die Seele eines Kriegers besaß. Er hatte Not und Elend, Kälte und Hunger mit seinen Leuten geteilt. Nie hatte er sich selbst mehr zugestanden als ihnen. Oft hatte er den Schwächeren von dem Wenigen gegeben, das er selbst besaß – ohne Rücksicht auf den Rang. Heute waren die Männer des 33. Regiments bereit, Oberst Wesley durch die Hölle zu folgen, falls er es von ihnen verlangte.
Der Goldfuchs stand vollkommen regungslos, als Arthur den Marschbefehl nach Penang aus der Tasche zog. Mit ruhiger Stimme verlas er den Mannschaften und Offizieren, was sie in Kürze erwartete. »Ich weiß, dass ihr mich nicht enttäuschen werdet, Männer!« beendete er seine Ansprache – die längste, die Oberst Arthur Wesley vor seinem Regiment je gehalten hatte.
Genauso langsam, wie er zu seinen Männern geritten war, ritt er nun wieder fort. Erst als er aus dem Blickfeld seiner Rotröcke verschwunden war, ging ein Murmeln und Raunen durch die langen Reihen. »Maul halten!« herrschte Major John Shee seine Kompanien an. »Ich bitte Sie, meine Herren!« versuchte Francis West, die Aufmerksamkeit seiner Soldaten zurückzuerobern.
Oberstleutnant Sir John Sherbrooke stand unter Schock. Er sagte gar nichts.
Wesleys und Sherbrookes kleines Haus verwandelte sich von einem Tag auf den anderen in einen Bienenstock, der einem Stabsquartier ähnelte. Das 33. Regiment würde in Begleitung eines provisorischen Sepoy-Regiments ins Feld ziehen, das sich aus handverlesenen Männern der besten indischen Einheiten im Dienste der Ostindischen Kompanie zusammensetzte. Alles in allem würden 2200 Soldaten aus
Kalkutta nach Penang segeln und dort auf eine etwa gleich starke Truppe aus Madras treffen. Die auserwählten europäischen Regimenter waren das 12. Infanterieregiment mit 461 Mann unter Henry Harvey Ashton, das 74. Hochlandregiment von Connor McLeod mit 438 Mann, sowie 673 Sepoys aus Südindien und Einheiten der Königlichen und der Madras-Artillerie.
Arthur versuchte seine Vorbereitungen geheimzuhalten, um den Schlag gegen Spanisch-Manila als Überraschungsangriff führen zu können. Doch in den drei Monaten, die er sich nun in Indien aufhielt, hatte er begriffen, dass Britisch-Indien ein Dorf und die Zivilisten geschwätzige Marktweiber waren, die jedem, der es hören wollte, alles erzählten, was sie wussten. Darum griff Arthur bereits im Anfangsstadium seiner Vorbereitungen zu einer Kriegslist, die zugleich den ersten Versuch darstellte, seinen neuen militärischen Nachrichtendienst ins Feld zu schicken. Außer den langen Beratungen mit den englischen Offizieren in seinem kleinen Haus unweit von Fort William, fanden noch andere Konferenzen an einem weniger frequentierten Ort statt: Howrah und der Kaschmir-Serai entwickelten sich langsam, aber sicher zu Wesleys nächtlichen Stabsquartieren. Er hatte Lutuf Ullah für »die Sache« gewonnen. Einerseits gab es die Sympathie zwischen dem jungen britischen Offizier und dem alten Pferdehändler aus Kabul, andererseits erinnerte der Afghane sich mit einer gewissen Nostalgie an seine Jahre als »Gast« von Warren Hastings zurück. Er konnte seine pro-britische Einstellung nur schwer verbergen.
Doch Lutuf war für Arthur zu kostbar, als dass er den Kabuli wegen Penang eingesetzt hätte. Er setzte ihn nur ein, um zu ermitteln, ob die Männer, die Sir Edwin Halls abenteuerlustige Tochter anschleppte, für seine Zwecke geeignet waren oder nicht. Wesley und C 1 – so lautete seit kurzem der Deckname Lutuf Ullahs in den Büchern der Armee und der Ostindischen Kompanie – stellten erstaunt fest, dass die junge Frau sich nur selten irrte.
Bald schon schwirrten wilde Gerüchte durch die Märkte und Spelunken von Kalkutta. Einem dänischen Handelsschiff gestattete Kapitän Rodrick Brodham, der Hafenmeister, auf allerhöchsten Befehl sogar die Ausfahrt aus dem Hoogley in Richtung Spanisch-Manila. An Bord befand sich ein Seidenhändler aus Hyderabad, der nicht nur seine schönen teuren Stoffe im Gepäck hatte, sondern auch