Rayan - Sohn der Wüste. Indira Jackson
„Jassim!“ herrschte der Scheich und eine halbe Sekunde später erschien einer der beiden Leibwächter, die vor dem Zelt Wache hielten. „Hol mir diesen Hatem aus Hanifs Zelt!“ - Jassim verneigte sich: „Ja Herr.“
„Ich werde dem Kerl eine Abreibung verpassen, die er nie mehr vergisst!“ knirschte der Scheich mit den Zähnen.
„Jassim – Halt! Warte!“, rief Hanif verzweifelt. Er brauchte Zeit, um Rayan zu beruhigen.
Während er dies sagte, hatte er sich in Richtung Zeltausgang umgedreht. Jassim versteifte sich, er war es nicht gewohnt unterschiedliche Anweisungen zu bekommen.
Normalerweise war Hanif sein oberster Befehlshaber und selbst wenn der Scheich da war, ließ er die meisten Anweisungen via Hanif ausgeben. Doch wenn er selbst eine gab, war diese sofort und ohne zu fragen zu erledigen.
Und als sich Hanif umdrehte, merkte er, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte.
Ganz leise sagte Rayan. „Jassim, würdest du bitte draußen warten?“, und ohne ein weiteres Wort verschwand dieser aus dem Zelt.
Sein Gesicht verriet, dass er froh war, nicht an Hanifs Stelle zu sein.
1991 - Rabea Akbar – Blutige Rache
Als es klingelte, öffnete der General selbst die Tür.
Seit dem Tod seiner Tochter Clara waren vier Wochen vergangen. Vier Wochen, ein Tag und zwei Stunden.
Sofort, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, waren er und seine Frau in die Krankenstation der Kaserne geeilt, in die man Claras Leichnam gebracht hatte.
Er hatte einen letzten Blick auf seine Tochter geworfen, jedoch seine Frau davon abgehalten, es ihm gleich zu tun. Es war das schlimmste Weihnachten und der einsamste Jahreswechsel gewesen, den sie je erlebt hatten.
Yasin hatte er in all der Zeit nicht gesehen. Er war nicht einmal zur Beerdigung gekommen. Doch der General war sich nicht sicher, welche Sitten in seinem Stamm bezüglich Ehrung der Toten üblich waren und so versuchte er, es dem Jungen nicht übel zu nehmen.
Auch in der Kaserne hatte ihn seit dem Tag niemand mehr gesehen und seinen Job als Führer hatte er nicht mehr angetreten. Der zuständige Sergeant bedauerte es zwar, einen so guten Mann so plötzlich verloren zu haben, jedoch war er es von den Vorgängern gewohnt, schnell einen Ersatz finden zu müssen. Im Vergleich zu anderen Jobs bezahlte die Armee mittelmäßig bis gut und vor allem pünktlich und so waren die Jobs begehrt.
Jack hatte fast allen Bediensteten freigegeben, denn was seine Frau in ihrer tiefen Trauer brauchte, war Ruhe.
Und so kam nur mehrmals in der Woche die Haushälterin, die auch für sie kochte.
Julie saß manchmal vor sich hin starrend im Garten, wenn er sie dazu nötigte, an die frische Luft zu gehen. Sonst verließ sie ihr Zimmer nicht.
Ab und zu kam der Arzt vorbei, um nach ihr zu sehen, doch außer ihr ein Beruhigungsmittel zu verabreichen, konnte er nichts für sie tun.
Was den General am meisten beschäftigte, war, dass alle Recherchen nach den Hintermännern der Tat ins Leere verlaufen waren.
Das ging ihm durch den Kopf, als er die Tür aufzog.
Zu seinem Erstaunen stand Yasin vor ihm. Aber er erkannte ihn kaum wieder. Er musste sich seit Wochen nicht rasiert, geschweige denn gewaschen haben. Die Kleidung war zerlumpt und fleckig, die Haare struppig. Auch schien er nicht viel gegessen zu haben, denn er hatte Gewicht verloren, sodass seine Kleidung noch verwahrloster um seinen Körper hing.
Die Augen lagen tief in den Höhlen, hatten aber einen wachen, fast irren Glanz.
Trotzdem Yasins Erscheinen nach so vielen Wochen und in diesem Zustand mehr als eigenartig war, lies sich der General nichts anmerken und winkte ihn wortlos durch die Tür ins Innere.
Er war froh, dass sich seine Frau oben im Schlafzimmer hingelegt hatte. Dieser Auftritt wäre für ihre angespannten Nerven definitiv zu viel.
Kaum waren sie im Wohnzimmer angekommen, platzte es aus Yasin heraus. Er sprach dabei eine eigenartige Mischung aus Arabisch mit Englisch, die ebenfalls ein Anzeichen seines völlig verwirrten Geisteszustandes war.
Stammelnd flüsterte er heißer: „Ich habe sie gefunden – die Schweine! Wollten gerade eine neue Bombe bauen … das hab ich ihnen ausgeredet …“ er kicherte irre. „Ich habe sie alle getötet!“
Dann packte er plötzlich und mit unerwarteter Kraft den General von vorne am Hemd und zog ihn zu sich heran: „Verstehen Sie?! Ich habe sie gerächt!! Ich habe Clara gerächt!“
Jack packte seinerseits Yasins Hände und löste sie vorsichtig von seinem Hemd. Es drang langsam zu ihm durch, was das Gestammel bedeutete. Konnte das wirklich wahr sein?
Er wollte Yasin weiter befragen, doch ohne ein weiteres Wort zu sagen, sackte dieser bewusstlos in sich zusammen.
2014 - Oase Wahi – Stolz
Hanif stand wie vom Donner gerührt in Rayans Zelt.
Wie hatte er sich so gehen lassen können? Er wusste wie jeder andere genau, dass es eines der schlimmsten Vergehen war, dem Scheich vor seinen Leuten zu widersprechen.
Während er in einem Vier-Augen-Gespräch vor allem Hanifs Rat immer schätze, so duldete er keinerlei Widerspruch, wenn andere dabei waren.
„Es, es tut mir leid!“, stammelte er. „Das hätte ich nicht tun sollen! Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Verzeiht mir Herr, ich wollte Euch nicht bloßstellen …“ seine Stimme brach ab.
Rayan hatte noch immer nichts gesagt. Er rang um seine Fassung und wollte nicht voreilig aus einem Impuls heraus etwas sagen. Das war er Hanif schuldig. Und doch hatte er das Gefühl, als hätte dieser ihn verraten. Er kämpfte damit, seine Wut im Zaum zu halten.
Die Sekunden zogen sich dahin und erst eine ganze Weile später sagte der Scheich schließlich mit einem beißenden Unterton in der Stimme: „Die beiden müssen dich ja sehr beeindruckt haben, dass du sogar deine Loyalität für sie riskierst.“
Hanif wurde rot. Sein Ausrutscher war ihm überaus peinlich und er hätte seine Worte gerne zurückgenommen, wenn er dies gekonnt hätte. Dass sein Herr aber deswegen seine Loyalität infrage stellte, beleidigte ihn. Er hatte vor 13 Jahren einen Eid geschworen, den er bisher noch nie gebrochen hatte, nicht eine Sekunde lang. Dies nun wegen eines Ausrutschers anzuzweifeln, traf ihn tief.
„Darf ich sprechen, Herr?“, fragte er mit neutralem Ton, jedoch völlig steif.
Rayan hob die Augenbrauen: „Natürlich.“
„Ich würde Euch gerne folgenden Vorschlag machen, Herr: Bitte erweist dem Händler die Ehre, ihn zu empfangen und sich seine Geschichte persönlich anzuhören. Ich übernehme die volle Verantwortung. Wenn Euch sein Bericht nicht zufriedenstellt, führe ich eigenhändig jede Bestrafung durch, die ihr mir für die beiden anweist.“
Rayan ärgerte sich. Er merkte, warum Hanif so förmlich war. Was war heute mit ihm los? Erst widersprach er ihm vor Jassim und nun war er auch noch beleidigt?! Was bildete der sich eigentlich ein?
Und so entgegnete er eisig: „Vorschlag angenommen. Und im Anschluss an das Gespräch mit dem Händler sprechen wir über DEINE Strafe.“
Hanif war blass geworden, doch er sagte nichts, verneigte sich tief und ging, um Hatem zu holen.
1991 - Rabea Akbar – Morgendämmerung
Als Rayan erwachte, wusste er nicht, wo er war.
Das Zimmer war ihm definitiv unbekannt. Er lag in einem Bett mit rot-weißen Bezügen, die Wände um ihn herum waren weiß getüncht. Alles war ordentlich und hell. Auf einem Schreibtisch