Teilzeitküsse. Nancy Salchow
Moment frage ich mich, ob das Foto auch schon vor einem Jahr für ihre Kontaktdaten auf seinem Handy hinterlegt war. Nur dass sie damals noch aus anderen Gründen angerufen hat. Schatz, bringst du noch Brot mit?
Ich schüttele die Gedanken mit einem leichten Kopfschütteln ab.
Reiß dich zusammen, Anna. Du bist jetzt die Frau an seiner Seite. Nicht sie.
„Hallo Katja …
Bin gerade unterwegs …
Ja …
Wirklich?
Das ist ja blöd …
Nein, das ist kein Problem …
Ja …
Wir kriegen das schon irgendwie hin, mach dir keine Gedanken …
Ja, dann bis Freitag …
Tschüß!“
Jan schiebt das Handy zurück in seine Jacke und lässt sich auf die Bank fallen. Neo legt seinen Kopf auf seinen Schoß, während Jan ihn gedankenverloren streichelt.
„Alles okay?“
„Ja, schon. Katja hat nur gerade gesagt, dass sie morgen keine Zeit hat, auf Neo aufzupassen. Eine kurzfristige Dienstreise. Und ausgerechnet für morgen hatte ich meinem Chef versprochen, eine Doppelschicht zu schieben. Du weißt schon, der hohe Krankenstand.“ Er überlegt. „Ich werde ihm sagen, dass sich kurzfristig etwas anderes ergeben hat.“
Ich setze mich neben ihn. „Das verstehe ich nicht. Wieso ist es so wichtig, dass ausgerechnet Katja mit Neo spazieren geht?“
„Na ja, es ist nicht wichtig, dass sie es macht, aber sie hatte es angeboten und da habe ich dankend angenommen. Warum sollte ich nicht auch mal einen Vorteil aus dieser Teilzeithund-Vereinbarung haben?“
„Ich meinte ja nur, ich bin doch auch noch da. Lass mich doch mit ihm gehen.“
„Echt? Aber du bist noch nie mit ihm allein unterwegs gewesen.“
„Traust du mir das etwa nicht zu?“
„Doch … sicher … aber wir treffen uns doch sonst immer erst bei mir, wenn ich auch zu Hause bin und da dachte ich“, er gerät ins Stammeln, „keine Ahnung, vermutlich wollte ich dich einfach nur nicht überfallen.“
Dass er zuerst Katja gefragt hat, verletzt mich mehr, als ich angenommen hätte. Ich versuche, mir meine Kränkung nicht anmerken zu lassen.
„Ich kann gegen vier bei ihm sein, dann kann ich mit ihm in den Park gehen oder in den Wald. Ich würde mich freuen. Wirklich.“
„Na, wenn das so ist“, ein dankbares Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, „dann nehme ich deinen Vorschlag natürlich gerne an.“
Sein Dankeschön hat etwas Förmliches. Allein der Gedanke an den sensationellen Kuss vor dem Handyklingeln hilft mir dabei, meine Kränkung zu verdrängen.
„Schön“, antworte ich, während mich Neo anhechelt, als hätte er ganz genau verstanden, worum es geht.
Kapitel 5
Der weiche Stoff meines cremefarbenen Sommerkleides umspielt meine Knie, während ich den von Birken gesäumten Feldweg entlangschlendere – neben mir an der Leine ein überglücklicher Neo, für den jeder Spaziergang so aufregend ist wie eine Mondlandung.
Aufgeregt beschnuppert er Steine und Büsche, buddelt mit seiner Pfote Maulwurfshügel auf und freut sich seines unbeschwerten Hundelebens.
Für den Moment scheint seine Unbeschwertheit auf mich abzufärben. Mit jedem Schritt, den ich die Wohnsiedlung hinter mir lasse und mich in Richtung Wald und Felder bewege, fühle ich mich ein Stück freier.
Warum bin ich nicht vorher schon mal mit Neo allein spazieren gegangen? Wir sind das perfekte Team. Keine Ablenkung, keine Probleme – nur wir beide und die Maulwurfshügel. Doch ehe ich mich voll und ganz in der friedlichen Idylle fallen lassen kann, reißt mich eine grelle Stimme hinter mir aus dem Tagtraum.
„Anna! Na sowas.“
Ich drehe mich widerwillig um und schaue noch widerwilliger in ein Gesicht, das ich seit beinahe zehn Jahren nicht mehr gesehen habe.
„Veronika?“ Ich starre sie entgeistert an. „Meine Güte, das ist ja ewig her.“
„Nicht zu fassen, oder? Und ich habe dich trotzdem sofort erkannt. Du hast noch immer genau denselben“, sie neigt den Kopf zur Seite und grinst, „Gang.“
„Denselben Gang?“
„Was auch immer“, sie fällt mir kichernd um den Hals, „ich habe dich jedenfalls sofort wiedererkannt. Ich wusste gar nicht, dass du hier wohnst.“
„Ich wusste auch nicht, dass du … ähm … hier wohnst.“
„Oh nein.“ Sie löst sich aus der Umarmung. „Ich wohne nicht hier, bin nur bei meiner Schwester zu Besuch und war gerade auf der Suche nach ein paar Feldblumen für Trockensträuße. Wir dekorieren das Haus für den Geburtstag meiner entzückenden Nichte. Sie wird elf.“
Ich mustere sie wortlos. Dieselben unnatürlich hellblonden Haare wie damals, die kirschroten Lippen und das gekünstelte Dauergrinsen, mit dem sie schon als Teenager über den Schulhof stolzierte, um den Schein des perfekten netten Mädchens von nebenan zu wahren, während sie hinter nahezu jedem Rücken lästerte. Ein Rücken davon war meiner. Wobei es vielmehr mein damals noch breiter Hintern als mein Rücken war, der sie zum Lästern brachte.
Neo zieht ungeduldig an der Leine. Die Unterhaltung scheint ihn noch mehr zu nerven als mich.
„Tut mir leid, Veronika, aber mein Hund wird langsam nervös. Und wir zwei sind heute zum ersten Mal allein unterwegs, deshalb …“
„Ach, er ist ja allerliebst“, sie tätschelt ihm die Stirn mit den Fingerspitzen.
„Ja, und deshalb …“
„Und sonst so?“ Meine Eile scheint sie nicht die Bohne zu interessieren. „Was macht die Liebe? Das Leben? Der Job?“
„Alles bestens.“ Neos Ziehen wird stärker. „Tut mir wirklich leid, Veronika. Aber ich …“
Doch ehe ich den Satz beenden kann, löst sich Neo von einem Moment auf den anderen aus seinem Hundegeschirr. Mit der Leine in der Hand, die noch immer an dem Geschirr befestigt ist, schaue ich panisch um mich. Auf dem nahegelegenen Feld sehe ich ihn davonlaufen und wenige Meter vor ihm auch den Grund für seine Ungeduld: Ein Reh.
Na toll. Das hat mir gerade noch gefehlt.
„Neo“, rufe ich ihm aufgebracht nach. „Komm sofort her!“
Doch er entfernt sich weiter und weiter von mir.
„Na, das ist ja ein ganz Schneller!“ Veronika verschränkt die Arme vor der Brust und schaut ihm sensationslustig hinterher. „Warum kommt er denn nicht, wenn du ihn rufst? Müsste das nicht das Erste sein, was ein Hund zu lernen hat?“
„Boah, Veronika, kannst du mich jetzt bitte in Ruhe lassen?“ Ich fahre besorgt mit den Fingern durchs Haar. „Du bist noch genauso oberflächlich wie damals.“
„Also, Anna. Ich bin entsetzt.“
„Erzähl das deinen Trockensträußen, okay?“ Wie vom Blitz getroffen stürme ich aufs Feld, obwohl mir dort nur umso deutlicher wird, dass ich ohnehin keine Chance habe, ihn einzuholen.
Neo ist schnell, das Reh ist verdammt schnell – und ich bin nichts von beidem.
„Neo!“ Seine sich beinahe überschlagenden Beine werden mit jedem Meter, den er sich von mir entfernt, langsam zu fast unsichtbaren Punkten auf dem Feld.
„Neeeeeeoooooo!“
Doch ehe ich