Die schönsten Augen nördlich der Alpen. Jules van der Ley

Die schönsten Augen nördlich der Alpen - Jules van der Ley


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durch willkürliche Muskelanspannungen gestört. Die außerirdischen Humantechniker sind vielleicht dadurch herumgewirbelt worden, aber sobald ich aufhörte, ihnen Stress zu machen, gingen die Neuverdrahtungsarbeiten unverdrossen weiter, eine ganze Weile.

      Ob die Humantechniker wegen meiner Störmanöver falsche Anschlüsse gelegt haben oder ob es böse Absicht war, aber für heute konnte ich nur diesen Bericht hier schreiben. Darin ist kein Wort wahr. Er ist quasi komplett gelogen. Falls die neue Verdrahtung meiner Schreibhand weitere Lügengeschichten hervorbringen sollte, werde ich selbstverständlich nichts mehr schreiben und Bleistift und Tastatur bei der Polizei abgeben.

      Die schönsten Augen nördlich der Alpen

      Hallo?! Wie peinlich ist das denn?! Unter dem Gejohle der Punker, die immer vor dem Edeka-Supermarkt lagern, werde ich in Handschellen über die Limmerstraße abgeführt. Und just, als die beiden Polizisten mit mir am Straßenrand warten, um eine stadteinwärts fahrende Straßenbahn vorbeizulassen, just in diesem peinlichen Augenblick kommt Frau Schewardnadse mit dem Fahrrad angefahren. Rundet im erstaunten Wiedererkennen ihre schönen Augen, und gerade kann ich noch stammeln: „Es ist nicht das, wonach es aussieht!“, da zerren mich die Bullen auch schon zum Polizeiwagen hin.

      Jetzt sitze ich auf dem Polizeirevier in der Ausnüchterungszelle für Akademiker und andere Strolche und warte auf den Polizeipsychologen.

      Es hat alles ganz harmlos begonnen. Monatelang war ich nur zu Edeka gegangen in der Hoffnung, Frau Schewardnadse säße an der Kasse. Eigentlich sieht sie aus wie eine ganz gewöhnliche Frau Anfang 40, mit blonden Strähnchen in den braunen halblangen Haaren. Aber wenn sie mich anschaut und lächelt, falle ich aus den Schuhen. Sie hat mindestens die schönsten Augen nördlich der Alpen. Und wenn sie mir das Wechselgeld zurückgibt, streicht sie jedes Mal wie unabsichtlich meine Hand. Da dachte ich schon: Man muss sich vorsehen bei den slawischen Weibern. Sie haben allerlei kokette Tricks in petto.

      Leider war Frau Schewardnadse schon wieder nicht da. Vielleicht hat sie ja eine andere Stelle gefunden, denn eigentlich ist Frau Schewardnadse nicht einfach eine Frau an der Supermarktkasse, sondern war in Georgien eine Astrophysikerin gewesen. Sagt jedenfalls mein Freund Konrad Fischer. Alle Frauen, die aus dem tiefen Osten kämen und bei uns im Westen an den Supermarktkassen sitzen, wären in ihrer Heimat arbeitslose Astrophysikerinnen mit einem Doktortitel in Quantenphysik oder mindestens Lehrerin gewesen.

      Statt Frau Schewardnadse sitzt ein junges Kassenfräulein da, zieht meine Waren über den Scanner, lächelt und sagt:

      „Neun Euro 50 hätte ich gerne!“

      Ich bin bitter enttäuscht und sage fest: „Wir haben nicht vereinbart, dass ich Ihnen für diese Dienstleistung ein Honorar bezahle.“

      „Wie jetzt…?“

      „Fast zehn Euro für ein Lächeln, nö! Ja, und dann haben Sie natürlich ein paar Waren über den Scanner gezogen. Das ist doch keine Leistung!“

      „Hallo…? Geht’s noch? Sitzen Sie hier mal acht Stunden und fertigen jeden Idioten ab.“

      „Sind Sie grad ein bisschen ausfallend geworden? Erst lächeln, dann schimpfen, und alles für neun Euro 50.“

      „Sie bezahlen doch mich nicht für irgendwelche Höflichkeitsgesten.“

      „Das nennen Sie also ‘Höflichkeitsgeste’. Ganz umsonst werden Sie die Idioten aber auch nicht abfertigen.“

      „Mein Lohn ist in den Waren enthalten.“

      „In meinem Kartoffelsalat? Ja, ist denn das erlaubt?“

      „In den Preisen Ihres Einkaufs.“

      „Meines Einkaufs?“

      „Ja, Sie stehen hier nämlich an der Supermarktkasse. Ich habe Ihre Waren über den Scanner gezogen, die Computerkasse hat die Preise registriert, zusammengezählt und die Kaufsumme von neun Euro 50 ausgegeben, und jetzt ist es üblich, dass der Kunde bezahlt. Sagt ja schon das Wort: ’Einkaufen’ mit Betonung auf Kaufen.“

      „Üblich? Ich komme aus dem Rheinland. Da kaufen wir nicht ein, sondern holen uns alles.“

      „Aber in Hannover ist es üblich, dass der Kunde kauft, also zahlt.“

      „Ja, wo ist er denn?“

      „Wer jetzt?“

      „Der Kunde, der meine Waren bezahlt?“

      „Jetzt rück schon die Kohle raus, Alta“, brummt mein desolat aussehender Hintermann, der nur eine Flasche Wodka aufs Band gelegt hatte, „ich hab nicht ewig Zeit.“

      „Ach, eilt es bei dir so mit dem Saufen? Zahl du doch!”

      “Herr Huschke, Kasse bitte!”,

      sagt das Kassenfräulein ins Mikrophon. Und wie aus dem Nichts steht Herr Huschke neben mir, erkennbar an dem Namensschild an seinem Kittel.

      Ich sage: „Hallo, Herr Huschke, sind Sie nicht so ein kleiner Dicker mit Brille?

      „Nein, das ist die Frau Haubentreter. Was gibt’s?“

      „Der Herr hinter mir hat nicht ewig Zeit, sagt er.“

      „Wer hat das schon. Sehen Sie, ich bin jetzt 53 und habe noch 12 Jahre bis zur Rente …“

      Das wird traurig, weiß ich sofort und sage: „Einen Moment, bitte, Herr Huschke“, greife mir die Wodkaflasche, schraube sie auf und setze sie an den Hals. Ah, das Zeug läuft runter wie Wasser. Ich hab Riesendurst. Derweil wird mein Hintermann, der zahlende Kunde, renitent und will mir die Flasche entwinden. Im allgemeinen Gerangel fängt das Kassenfräulein an zu schreien, und Herr Huschke geht zu Boden.

      Muss man da gleich die Polizei rufen?

      Jetzt bin ich schon fünf Stunden in der Ausnüchterungszelle. Seit meiner Einlieferung habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. In der Ferne höre ich den Straßenverkehr rauschen. Wo mag nur Frau Schewardnadse jetzt sein? Hat sie eventuell die schicke Edeka-Uniform ausgezogen und ist ohne mich verreist?

      Hier hängen nur Zettel, wenn du befugt bist zu lesen

      Mein Freund Herbert Nebenmann und ich – wir sind uns nicht ähnlich, zumindest nicht, wenn wir gehen. Herbert ist etwas zu klein geraten und ich bin für meinen Geschmack zu groß, weshalb ich ein wenig krumm gehe, während Herbert sich kerzengerade hält. Sieht man uns zusammen, straft jeder den anderen Lügen. Ein Betrachter würde finden, aus uns beiden könnte man einen Guten machen, der sich nicht recken muss, nicht krümmen, sondern lässig daherschlendern dürfte. Deshalb ist es aus ästhetischen Gründen beinah besser, wenn Herbert und ich uns meiden.

      Unser durchaus deutlicher Größenunterschied hat die unangenehme Begleiterscheinung, dass Nebenmann zu mir aufschauen muss, während ich ungewollt zu ihm hinabsehe, was mir eine gewisse Vormachtstellung einzuräumen scheint, die allerdings ganz und gar ungerechtfertigt ist. So sollten wir allenfalls nebeneinander sitzen, nicht jedoch nebeneinander gehen, was wir inzwischen auch kaum noch tun, oft jedoch während unseres gemeinsamen Studiums getan haben. Damals wollten wir einfach nicht wahrhaben, dass uns die Natur und die Gesetze der Ästhetik das Paarlaufen verbieten.

      Wir hätschelten nämlich ähnliche Vorlieben und Ideen, worüber wir uns gerne gehend austauschten, ich von oben herab, er von unten herauf. Eine dieser Ideen betraf die zahlreichen Türen in den langen Gängen der Universität. Wir hatten gefunden, dass die meisten dieser Türen immerzu und jederzeit geschlossen waren. Das gab zunächst überhaupt keinen Sinn, denn wozu führen elend lange Gänge zu ungezählten Türen hin, wenn die Türen von niemandem benutzt werden? Andererseits war die Sache vertrackter als es den Anschein hatte.

      Geschlossen waren die Türen nur, wenn Herbert und ich keinen Grund hatten, sie zu öffnen. Wenn wir also von einem Hörsaal des Pataphysischen Instituts unterwegs waren zu


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