Die schönsten Augen nördlich der Alpen. Jules van der Ley

Die schönsten Augen nördlich der Alpen - Jules van der Ley


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die Lindener Sumpfblüten würden mich für ihresgleichen halten wie die Penner damals in Aachen, als ich in den Eingang ihres Sauftreffs gefallen bin. Da kam ich Abends mit dem Rad aus der Stadt, hatte was getrunken und kein Licht am Rad. Ich radelte die Trierer Straße hoch. Plötzlich überholte mich ein Polizeiauto. Damit sie mich nicht drankriegten, hielt ich an, wollte meinen rechten Fuß auf den Bordstein setzen, trat daneben und fiel der Länge nach in den zur Straße offenen Eingang einer Trinkhalle, wo sich die Berber des nahen Bahnhofs Rothe Erde trafen, um Bierflaschen oder Jägermeisterfläschchen leerzulutschen.

      Ich fiel also in den Eingang und wurde von den anwesenden Pennern mit freundlichem „Hohoho!“ und „Hallohallo!“ begrüßt. Offenbar war das Hineinfallen die angemessene Weise, die Trinkhalle zu besuchen, und ich hatte mich schon im Sturz als einer der ihren qualifiziert.

      Aufgerappelt und nochmal zurück. Wieso kann ich mich fragen, Männer, ob ich ein Taxi bestellt habe, nur weil es vor dem Haus wartet? Wieso sagt mir die innere Gewissheit nicht, dass ich derlei nicht zu denken brauche? Zweifel an der Gewissheit sind ja nach Wittgenstein nur im Sprachspiel möglich.

      „Hoho, der feine Herr fährt Taxi und zitiert Wittgenstein!“

      „Hat nur den Schlafanzug am Hintern, aber lässt sich hochherrschaftlich kutschieren!“

      „Pah! Wittgenstein! Nach John Locke gründet zwar alle Erkenntnis auf Erfahrung, aber alle Gewissheit auf Intuition.“

      „Entschuldigt! Darüber muss ich erst in Ruhe nachdenken. Bis später dann!“

      Upps, nochmal Glück gehabt. Und der Taxifahrer? Ich stelle einfach die Klingel ab. Soll er doch die Waldhornbläserin herausklingeln und wegbringen.

      Ein Mann findet ganz plötzlich die Weltformel

      Leider muss ich in Dortmund vom ICE in den Regionalexpress nach Aachen umsteigen. Der Zug hat Verspätung, und daher steigen unterwegs auch all jene zu, die eigentlich erst mit dem nächsten Zug hätten fahren wollen. Ich kann mich am Fensterplatz der Vierersitzgruppe nicht bewegen, bin völlig eingezwängt. Schräg gegenüber hat sich eine wirklich dicke junge Frau niedergelassen und scheint unter dem Ruckeln und Zuckeln der Bahn wie Brei zu zerfließen. Jedenfalls wird sie immer breiter, touchiert beständig mein Knie, und so sehr ich mich auch bescheide, es nutzt überhaupt nichts. Ihr Knie folgt meinem Knie nach, um es warm und feucht zu herzen.

      Mir gegenüber, also direkt neben der Dicken sitzt ein Inder, und der wird vor meinen Augen langsam an die Fensterwandung gequetscht, weshalb er schnappt wie ein nachlässig aussortierter Fisch auf den Planken eines Krabbenkutters. Zum Glück sind diese Leute leidensfähig. Rettung ist nicht in Sicht, denn selbst wenn wir uns der fetten Frau entringen könnten, auf dem Gang ist kein Durchkommen. So sehne ich den Ort Düren herbei, der es eigentlich wirklich nur verdient, weil die dicke Frau ihrer Freundin rechts von mir erklärt hat, welche Stationen noch anstehen, bis man in Düren aussteigen werde.

      Ach, und es sind noch so schrecklich viele. Die dicke Frau sagt, sie werde in Düren zuerst was essen, „doch zum Selberkochen habe ich keine Lust, ich bin ja nicht blöd.” Ich vermute schon, dass sie alles isst, was groß und dick macht; da sagt sie, sie werde einen Döner essen (oder fünf?), „in einem Laden, der schon recht luxuriös ist für eine Dönerbude.” Derweil plärrt ein Säugling, ringsum wird telefoniert oder man redet irgendwas dahin und durcheinander, und aus allen Richtungen zischt unerwünschte Ohrstöpselmusik. Sie soll ja eigentlich in die Köpfe der Verstöpselten hinein. Doch da just die besonders hohl und daher gute Resonanzkörper … Entschuldigung, der überfüllte Zug ist gar nicht unser Thema. Denn in Düren leert sich der Zug, die Dicke reißt in ihrem Kielwasser Säugling, Kinder, verstöpselte Jugendliche, Frauen und sogar gestandene Männer mit. Ich atme auf, schaue mich erleichtert um, und indem sich der Zug aus dem Dürener Bahnhof entfernt, kann ich sogar hören, was drei Sitze weiter auf der anderen Seite gesprochen wird. So erlebe ich das Aufstehen eines neuen Propheten.

      Aufgestanden ist der hochgewachsene Prophet zwischen dem Bahnhof Rothe Erde und dem Aachener Hauptbahnhof. Der Zug endet dort. Zuvor jedoch, als der Mann noch kein Prophet war, hatte er sich mit einer etwa 50-jährigen attraktiven Frau unterhalten. Die Initiative ging ganz offenbar von ihr aus, und sie führte das Gespräch, indem sie die Themen vorgab. Der junge Mann war vermutlich Iraner, denn sie sprach mit ihm über den Schah von Persien und dass es ein großer Fehler gewesen sei, den Frauen das Tragen des Kopftuches zu verbieten. In der Folge beteuerten sie einander, dass man Toleranz walten lassen müsse, überall auf der Welt. Und so ging es hurtig hin und her, bis die Frau am Bahnhof Rothe Erde aussteigen musste. Da sagte sie ihm, schon halb im Gang: „Schön, dass wir uns getroffen haben. Und vielleicht sehen wir uns ja noch mal wieder, wenn Sie auch in Aachen wohnen!“ Da beeilte er sich zu versichern, dass er ganz genauso empfinde, und als ich hinüber sah, da schossen ihm gerade Aufregung und Freude rot in die Ohren. Und in dieser euphorischen Stimmung, kam ihm die Erleuchtung, allerdings nicht sofort, sondern eine kleine Weile, nachdem sie ausgestiegen war.

      Zwischen Aachen Rothe Erde und dem Hauptbahnhof fährt der Zug ganz langsam und rollt dabei auf dem langen Burtscheider Viadukt, einem prächtigen Bauwerk von 1840 mit imposanten Stützpfeilern. Man hat einen schönen Blick über die Stadt bis hin zum Lousberg hinüber, ist dann plötzlich über Straßen, Häusern und Dächern und schaut in enge Hinterhöfe hinein. Diese eindrucksvolle Szenerie, gepaart mit der freudigen Erwartung auf den Endbahnhof, hat etwas Erhebendes. Freilich ist es nicht ausgemacht, dass der junge Mann seine Umwelt überhaupt wahrnahm. Er war nämlich in aufgekratzter Stimmung und völlig von seinen Gefühlen eingenommen, sah also mehr nach innen als nach außen. Und da plötzlich brach es laut aus ihm heraus. Eine Frage: …

      und eine Antwort. „In was für einer Welt leben wir eigentlich? Ist es etwa ein Alptraum oder ein Traum? Ich würde sagen: beides.“ Dann erhob er sich, stand auf als Prophet und ging den Gang hinunter, ein großer, hübscher Iraner. „Wenn ihr wüsstet!“, rief er im Gehen, „wenn ihr wüsstet!“, und zog davon. Gerne hätte ich ihn noch etwas gefragt, doch er verschwand leider sofort. Ich sah ihn nicht aussteigen, und auch auf dem Bahnsteig war er nicht. So mochte ich beinah glauben, dass der Mensch durch eine wie auch immer geartete Erleuchtung den Gesetzen der klassischen Physik entzogen wird und hinfort Dinge tun kann, die kein einfacher Mensch vermag.

      Die Erleuchtung, dass die Welt sowohl Traum wie auch Alptraum ist, lässt sich leider nicht einfach auf einen anderen übertragen. Denn Erleuchtungen sind individuell, man kann sie nicht erlernen oder übernehmen. Deshalb könnte der neue Prophet zwar eine Religion gründen, doch der einzige Nutznießer wäre er selbst. Wer noch nie erleuchtet wurde, kann die Erleuchtung des Mannes nicht nachvollziehen, allenfalls logisch betrachten. In logischer Hinsicht sind Frage und Antwort blanker Unsinn. Ebenso gut könnte man fragen und antworten: „Ist das Leben ein Schmalzkuchen oder ein Tapeziertisch? Es ist ein Schmalzkuchen auf einem Tapeziertisch.“ Sorry, ein Spaß. Ernsthaft: Die Frage: „Ist das Leben ein Alptraum oder ein Traum?“ beinhaltet eine logisch unerlaubte Einschränkung. Denn wer sagt denn, dass das Leben ein Traum ist? Wenn das Leben ein Traum ist, ist dann der nächtliche Traum ein Traum im Traum, ein Traum zweiter Ordnung? Und wer träumt diesen Traum? Träumt der träumende Prophet seinen und meinen Traum? Er hat mich doch gar nicht wahrgenommen und nicht gesehen, dass ich hinter seinem Rücken hinkritzelte, was er sagte, wozu ich eine Ecke vom Magazin der Süddeutschen Zeitung abrissen hatte. Und wirst auch du gerade vom Propheten geträumt? Hoffentlich nicht. Das wäre absurd, denn wer hat denn die Menschen geträumt, bevor der Prophet geboren wurde?

      Die zweite Möglichkeit wäre, dass es einen göttlichen Träumer gibt, der alle Leben der Menschen träumt, sich aufgespalten hat in Milliarden Seelen. Ein aufgespaltener Gott aber, der sich selbst nicht mehr als Einheit erlebt, ist so gut wie gar kein Gott. Und wenn er kein Gott ist, kann er uns alle auch nicht träumen.

      Es gibt im Deutschen kein Antonym zum Substantiv Traum. Ein solches Wort könnte beispielsweise Wach lauten. Wach und Traum sind die beiden Erlebnisbereiche des Menschen. Im Traum werden wir getan, im Wach tun wir mit Bedacht. Das Leben ist also nicht Traum oder Alptraum, sondern allenfalls Traumwelt und Wachwelt. Da die Frage “Ist


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