Die schönsten Augen nördlich der Alpen. Jules van der Ley

Die schönsten Augen nördlich der Alpen - Jules van der Ley


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Seneca würde sagen, dass Ihre Bilanz nicht stimmt. Sie erwarten zuviel, achten nicht, was da ist, sondern blicken neidvoll auf das, was Sie nicht bekommen können. Damit machen Sie sich den Tag kaputt. Und bei mir hängt mitten in der Nacht Ihr Schatten an der Decke. Holen Sie ihn rauf. Sie werden spüren, er ist ganz leicht. Denn das ist die ganze Kunst: das Schwere leicht und das Leichte schwer zu nehmen.“

      „Das Leichte schwer?“

      „Ja, legen Sie Ihr Augenmerk auf das Leichte. Geben Sie den kleinen, erfreulichen, zuweilen ulkigen Dingen Bedeutung.“

      „Hallo, Herr Unternachbar!“

      „Ja?“

      „Ich glaube, Sie reden im Schlaf.“

      Kellerassel verstößt gegen intergalaktisches Recht

      Es hat geregnet. Ein schwerer Landregen ist niedergegangen. Im Hof zwischen den feuchten Fliesen kriecht mit provozierender Langsamkeit eine Assel. Die Abmessungen einer Asselwelt zugrundegelegt, betrachte ich sie aus großer Höhe, derweil ich meinen Fahrradsattel trocken wische. Weil ich so wenig über Asseln weiß und weil sie sich so seltsam stoisch bewegt auf ihren kaum sichtbaren sieben Beinpaaren, stelle ich mir vor, die Assel wäre das Raumschiff einer außerirdischen Spezies, eher noch das Landungsschiff, mit dem sie unsere Welt erkunden.

      Im Inneren, links und rechts an den Außenwänden entlang sitzen je sieben außerirdische Navigatoren in Reihe hintereinander je über einem Bein und steuern es per Joystick. Die fortgeschrittene Asseltechnik würde hier eine Automatisierung erlauben, aber die Außerirdischen steuern die Beine manuell, damit sie sich bei der Langsamkeit ihres Erkundungsfahrzeugs nicht tödlich langweilen. Außerdem trainieren sie die mentale telepathische Vernetzung, die allein es erlaubt, die Bewegungen von 14 Beine zu koordinieren. Telepathische Vernetzung ist nicht unproblematisch. Wenn alle geistig miteinander verbunden sind, reicht die verregnete schlechte Laune eines einzigen, um die gesamte Besatzung in bodenlosen Grimm zu stürzen. Man faucht sich telepathisch an, weil das fünfte Bein links mal wieder aus dem Takt ist, weshalb die angestrebte Vorwärtsbewegung stoppt. „Scheiße im Quadrat! So kommen wir hier nie mehr weg!“, rufen 13 Navigatoren entnervt im Chor und bringen die Beine nun völlig durcheinander.

      Aber was? Obwohl ich nur ganz friedlich mein Fahrrad vom Hof schieben will, hat man in mir einen Feind ausgemacht, und ohne sich um diplomatische Kontakte überhaupt zu bemühen, feuern die Asselianer mehrere Salven winziger Geschosse nach meinen Schuhen ab. Auslöser war ein Streit auf der Kommandobrücke. Der Asselkommandant hatte nach einem Kaffee verlangt. Sein persönlicher Referent brachte ihm eine volle Tasse mit den Worten: „Sieht nach Regen aus, Exzellenz!“ „Ja“, antwortete der Asselkommandant: „Aber wenn man genau hinschaut, merkt man doch, dass es Kaffee sein soll.“ Das wiederum erboste seinen ohnehin gereizten Referenten, dass er die volle Kaffeetasse in die Ecke schleuderte, leider in die Steuerungseinheit des Verteidigungssystems. Das hatte eine Fehlfunktion und meldete „ALARM! Feindliche Bedrohung durch zwei riesige Boote!“, weshalb quasi automatisch die Warnschüsse auf meine Schuhe abgegeben wurden.

      Es muss nicht zum ersten Mal zu derlei feindlichen Akten gekommen sein. Jedenfalls habe ich jetzt die Erklärung für den desolaten Zustand meiner Laufschuh. Was ich für die üblichen Verschleißspuren gehalten habe, kommt vom Alienbeschuss! Meine Herren! Ja, muss das denn sein? Das ist doch eindeutig ein schwerer Verstoß gegen intergalaktisches Recht. Man muss wohl den asselianischen Botschafter einbestellen.

      Wie ich beinah versehentlich gestorben wäre

      Es gab eine Zeit, da habe ich fast täglich mit einem Milchkaffee vor der Biobäckerei Doppelkorn gesessen, das bunte Treiben am Ende der Limmerstraße beobachtet, in mein Notizbuch geschrieben und geraucht. Aus dieser Zeit kenne ich einen kleingewachsenen Migranten, einen unglaublich freundlichen Mann, schon ein bisschen grauhaarig, der eine deutsche Freundin hat, die zwei Köpfe größer ist als er. Eine Weile hatten wir uns nicht gesehen. Ich war längere Zeit krank gewesen, hatte das Rauchen drangegeben und fuhr nicht mehr zu Doppelkorn, weil das Personal dort dauernd wechselte, so dass ich nicht mehr wie ein Stammkunde behandelt wurde, sondern man mich ansah, als wäre ich erst gestern von einem Planetensystem im Pferdekopfnebel eingewandert. Stattdessen sieht man mich jetzt fast täglich am Anfang der Limmerstraße, wo ich im Bio-Supermarkt das angebotene Mittagsmenü zu mir nehme, das aber meistens nur aus einer veganen Suppe besteht, genau richtig für einen, der nicht gerne zunehmen möchte. Hier werde ich immer bevorzugt behandelt und kann in Ruhe essen.

      Vorgestern gab es Minestrone, und wie ich die löffele, sehe ich den kleinen Migranten mit seinem Einkauf bei der Kasse stehen und bezahlen. Da ahne ich nichts Gutes und konzentriere mich auf die Suppe. Aber irgendwann drängt mich die Höflichkeit hinüberzuschauen, unsere Blicke treffen sich, ich winke zum Gruß ihm zu, glaube, meine Pflicht erfüllt zu haben, und in Ruhe weiter essen zu dürfen. Doch da ruft er: „Geht es Ihnen gut?!“ und erwischt mich mit einem Schluck Minestrone im Mund.

      Bitte. Man kann auf alberne Weisen sterben. Irgendein römischer Drusus ist erstickt, nachdem er einen Birne in die Luft geworfen und mit dem Mund aufgefangen hatte. Er soll ein Kraftprotz gewesen sein, der durch allerlei akrobatische Kunststücke zu begeistern versuchte. Sein Tod ist also irgendwie plausibel. Aber an einer Erbse, diesem Nichts von einer Kugel zu ersticken, ist eine wahrhaft dumme Weise zu sterben. Wie läse sich das denn? Der gute Herr Leisetöne hat das komische Geschehen kongenial in einem Satz zusammengefasst, so dass man sich noch Jahrhunderte an meinem Grabstein erheitern könnte: „Bei der Antwort auf die Erkundigung nach der eigenen Gesundheit gestorben – an einer Erbse im Hals.”

      Wenn Sie ein Konzert besuchen – denken Sie an mich

      Manchmal höre ich über mir ein Waldhorn. Es wird durchaus gekonnt geblasen, aber eine richtige Melodie ist nicht zu erkennen. Ich glaube, mein Obernachbar ist Waldhornbläser in einem Orchester und viel auf Reisen, denn seine Übungen im Tuten und Blasen dringen ja nur manchmal an mein Ohr. Es trifft mich also immer unvorbereitet und daher gelingt es mir nicht, mich gegen diese unerwünschten Töne zu wappnen, also etwa aushäusig zu sein, wenn der Waldhornbläser bläst. Gesehen habe ich ihn noch nie, daher könnte mein Obernachbar auch eine Waldhornbläserin sein.

      Wenn das Waldhorn blasende Mensch mit seinem Orchester vor einem lauschenden Auditorium von Musikliebhabern auftritt, dann mag der Hörgenuss vollkommen sein. Doch ich bekomme nur die akustische Schattenseite ab, nur das Üben irgendwelcher Tonfolgen. Es wäre deshalb eine schöne Geste, wenn der Dirigent vor jedem Konzert sich ans Publikum wenden würde mit etwa folgenden Worten:

      „Meine Damen und Herren, bevor wir Ihnen einen musikalischen Hochgenuss bereiten, für den Sie mit Recht eine Eintrittskarte gelöst haben, wollen wir in einer Schweigeminute all jener gedenken, die meine Orchestermitglieder beim häuslichen Üben ertragen müssen. Denn nur der Duldsamkeit dieser Menschen ist es zu verdanken, dass wir Ihnen Musik in höchster Perfektion zu bieten im Stande sind.“

      Das würde mich besänftigen. Von einer solchen Ansprache habe ich aber noch nie etwas gehört.

      Eines Tages werde ich vielleicht die Treppe hinaufgehen, klingeln, und wenn der Waldhornbläser öffnet, werde ich ihm wortlos einen Kinnhaken verpassen, der sich gewaschen hat. Falls aber eine Waldhornbläserin öffnet, werde ich still verzweifeln, mich entschuldigen und sagen, ich hätte mich in der Tür vertan.

      Pah! Wittgenstein

      Unten auf der Ecke wartet ein Taxi. Ich schaue eine Weile hin, aber es kommt kein Fahrgast. Für einen Augenblick überlege ich, ob ich ein Taxi bestellt habe. Dann wundere ich mich, dass ich, noch im Schlafanzug hinter dem Fenster stehend, mir überhaupt eine derartige Frage stellen kann. Wie lange wird der Taxifahrer dort unten warten, bevor er ungeduldig wird, aussteigt und irgendwo Sturm klingelt, womöglich brutal meine Schelle presst, so dass ich mitmuss wie ich grad bin. Wo lasse ich mich hinfahren?


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