Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
Die Kundryepisode gehört
zu einem keltischen Märchenkreis, der von Maynadier
bis auf Chaucer herab verfolgt wurde, und die Lehren
des Gurnemanz sind denen des sterbenden Vaters in
dem von uns wiedergegebenen bretonischen Märchen
verwandt. Auch der Erek und der Cligés zeigen Züge
von Märchen.
Mehr noch als in den Artusepen tritt die Reinheit
des Märchens in den L a i s zutage, jenen kurzen
Verserzählungen, die Marie de France so meisterhaft
in französische Zunge brachte. Unter den Stoffen dieser
bretonischen Gedichte tritt besonders der von der
gestörten Mahrtenehe hervor, von der ehelichen Gemeinschaft
eines Menschen mit einem elbischen
Wesen, die durch die Übertretung eines vom letzteren
gestellten Verbotes zu einem vorzeitigen Abschluß
gebracht wird. Hierher gehören die Novellen von
Lanval, Yonec, Graelent, Guingamor, vom bel desconnu
und von Sir Dégarré, während der lai du fraisne
zum Typus von der untergeschobenen Braut
stimmt und der Lai von Eliduc das bekannte Motiv
vom Schlangenkraut enthält. Selbst die T r o u b a -
d o u r s sind für den Märchenforscher nicht ohne Bedeutung:
Wilhelm von Poitiers überliefert zuerst den
Schwankstoff vom verstellten Narren.
Neben germanischen und keltischen Märchen wurden
für die Literatur des Mittelalters die durch die
Kreuzzüge vermittelten orientalischen besonders
wichtig. Hier spielte die byzantinische Kultur die
Vermittlerrolle. Spätgriechischer Dichtung verdankt
die im Mittelalter so verbreitete Erzählung von einem
Liebespaar, das sich nach langer Trennung und endlosen
Gefahren endlich doch wiederfindet, seine Entstehung,
jene Geschichte, die uns in Aucassin und Nicolette,
dann aber auch in Flore und Blancheflor, in Ma-
gelone und, legendenhaft umgebogen, im Wilhelm
von England Chrétiens entgegentritt. Zum byzantinischen
Amicus- und Ameliusstoff stimmt der Schluß
des Märchens vom getreuen Johannes, dessen Eingang
zu den Brautwerbungssagen aus dem jüdischbyzantinischen
Salomokreise gehört: hier dürfte Entstehung
des Märchens aus der Literatur vorliegen. Der
Parthonopier des Denis Pyramus, dessen Ausdehnung
in der Weltliteratur der der »matière de Bretagne«
kaum nachsteht, ist der milesischen Fabel von Amor
und Psyche nahe verwandt. Das Märchen vom Meisterdieb,
das sich bis zu Herodot hinauf verfolgen
läßt, hatte im Mittelalter eine große Verbreitung und
entsprach zumal dem französischen Geschmack, der
aus den germanischen diebischen Zwergen die mannigfach
nuancierte Klasse der »Larrons« schuf, jener
kleinen und behenden Spitzbuben, deren Prototyp der
Maugis d'Aigremont ist. Dieses Märchen zieht sich in
vielfachen Abarten durch die gesamte Literatur des
Mittelalters: die bekannteste Version ist die im Mittelniederländischen
bewahrte, aber auf französische
Quelle zurückgehende von Karl und Elegast, der Pferdediebstahl
des Meisterdiebes begegnet im Elie de St.
Gilles und fast gleichzeitig beim Engländer Walter
Map, der verwandte Scherz vom nüsseknackenden
Dieb auf dem Kirchhof bildet die Grundlage des Fabliaus
Estula, während das Fabliau von Barat und
Haimet die Streiche der Gauner in lustigster Verwirrung
beschreibt. Nahe zum Meisterdiebstoff gehört
endlich das Fabliau von Trubert, dessen Stoff in modernen
französischen Sammlungen noch mehrfach begegnet.
Das orientalische Märchen vom goldenen
Vogel liegt der verlorenen Quelle des mittelniederländischen
Walewijnromans zugrunde.
Aber von weiter her noch als von den Ufern des
Bosporus und von den Schlössern der Kalifen strömte
der Märchenstrom herein: das ferne Indien öffnete die
Tore seiner unergründlichen Schatzkammern und
überschwemmte das Abendland und namentlich
Frankreich mit seinen Stoffen, die bald in märchenhafter
Pracht schwelgen und in wilder Häufung des
Phantastischen die Wunder einander übertreffen und
übertrumpfen lassen, bald mit bitterer Ironie die
menschlichen Schwächen und mit Vorliebe die Unbeständigkeit
der Weiber geißeln. Freilich läßt sich nur
eine ganz geringe Anzahl der sogenannten F a -
b l i a u x , jener kurzen Reimschwänke, die das Dreieck:
Gatte – Frau – Liebhaber von allen erdenklichen
Seiten beleuchten (wodurch dann allerdings oft Dinge
ans Licht kommen, die besser verborgen geblieben
wären) – nur eine kleine Anzahl dieser Stoffe läßt sich
in denjenigen orientalischen Sammlungen, die dem
Mittelalter bekannt waren – der disciplina clericalis,
dem Dolopathos, dem directorium humanae vitae
und dem Barlaam und Josaphat – nachweisen; viele
dieser Kleinigkeiten sind gewiß auch in Europa und
speziell in Frankreich selbst entstanden. Diese Reimschwänke,
deren Verfasser, die übrigens nur in den
seltensten Fällen mit ihren Namen hervortreten, aus
dem Stand der fahrenden Kleriker und der Berufsspielleute
stammen, sind nicht nur wegen der Verbreitung
ihrer Stoffe wichtig, sondern sie sind auch eine
Fundgrube für den Kulturhistoriker. Sie lehren uns,
worüber das Frankreich des 13. Jahrhunderts gelacht
hat. »Bald leichtsinnig und derb, bald feinsinnig und
bald zynisch, über allzu unbedeutenden Anlaß lachend,
immer spöttisch, selten satirisch, so ist das Fablel
ein wichtiger Zeuge für die niederen Triebe der
galloromanischen Rasse.« So definiert Bédier, der bedeutendste
Erforscher dieser Gattung, die Fabliaux.
Die Schwänke des Mittelalters lebten nicht nur in