Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
traditions populaires«
(seit 1886). Die meiste Ausbeute bot die Bretagne,
der die Werke von Luzel, Orain, Mme. de Cerny u.a.
angehören. Weiter wären zu nennen die Sammlertätigkeit
Bladés für die Gascogne, Pineaus für Poitou,
Lamberts für Languedoc, Carnoys für die Sommegegend
und nicht den geringsten zuletzt: Cosquins, dessen
treffliche Anmerkungen zu seinen lothringischen
Märchen eine der elementarsten Grundlagen für die
gesamte Märchenforschung darstellen und die hauptsächlich
eine Brücke vom Orient zum modernen Okzident
zu schlagen sich bemühen.
Es war hohe Zeit, die Schätze zu bergen, denn auf
die Romantik folgte das Maschinenzeitalter, jene
Epoche, in welcher die Menschheit in wahnsinniger
Überhebung die Natur zu beherrschen glaubte, bis die
Technik ihren Händen entglitt, eigenes Leben gewann
und in wilder Raserei den Bau der Jahrhunderte zertrümmerte.
Aus älteren Quellen
(Vom Mittelalter bis zum Ausgang des Rokoko)
Zwölftes und dreizehntes Jahrhundert
1. Wie Galopin für Elias von St. Gilles das
Wunderpferd Primsaus von Aragon stahl
Elias von St. Gilles ritt, vom Fluche seines Vaters getroffen,
in die Welt. Nach mannigfachen Abenteuern
überraschte er einst in Spanien vier Räuber beim
Mahl; drei davon erschlug er, den vierten, Namens
Galopin, einen schlauen und behenden Burschen,
nahm er als Diener an. Und bald bedurfte er seiner,
denn bei einem Überfall der Sarazenen wurde Elias
verwundet. Galopin schleppte seinen Herrn in einen
Weingarten und hier erblickte ihn Rosamunde, die
Tochter des Heidenkönigs Macabre. Sie pflegte den
Wunden und heilte ihn mit kräftigen Tränken.
Ein sarazenischer König, Lubien von Baudas, warb
um die Jungfrau und drohte, falls sie ihm verweigert
würde, ihren Vater mit Krieg zu überziehen. Schon
hatte sein Heer Macabres Burg im Halbkreise umschlossen,
doch niemand wagte es, den gewaltigen
Heiden zu bekämpfen. Da erbot sich Rosamunde
selbst, einen Kämpfer gegen den ungeliebten Werber
zu stellen, und sie bat Elias um den Ritterdienst. »O,
Herrin,« sagte Elias, »wie sollte ich einer Frau dienen,
die nicht an meinen Gott glaubt! Aber um des-
sentwillen, was Ihr an mir getan habt, als ich krank
und verwundet dalag, will ich Eurer Bitte willfahren.
Gebt mir Roß und Waffen, so will ich hinausgehen
und meinen Leib gegen Euren Freier zum Pfande setzen.
Bei Gott, ich weiß meine Lanze zu führen, und
kein Heide in Spanien, der Euch beleidigt hat, soll
sich des Sieges rühmen, wenn wir auseinandergehen.«
»Herr,« sagte die Jungfrau, »Ihr macht mich froh. Um
Euretwillen werde ich Mohammed verlassen und mit
Euch nach Frankreich gehen. Aber vor einem hütet
Euch, wenn Ihr mit dem Emir kämpfen wollt. Der
Schurke besitzt ein Streitroß, wie es in Frankreich
keines gibt: es heißt Primsaus von Aragon, Oriande
war seine Mutter. Wenn in der Schlacht das Gedränge
groß ist, dann springt es mit allen vier Beinen auf und
schreit und schlägt mit den Füßen um sich und tötet
jeden, den es trifft. Jeden, der es beim Zügel nimmt,
wirft es zu Boden, er müßte denn trefflich zu turnieren
verstehen.«
Als Galopin dieses Lob hörte, sprang er auf und
trat zu seinem Herrn: »Edler Graf,« sagte er, »was
zaudert Ihr noch? Bittet die Jungfrau, daß sie Euch
Waffen gibt. Ehe nach Mitternacht der erste Hahn
kräht, werde ich Euch das Streitroß verschaffen, allen
Heiden zum Trotz!« Galopin bekleidete sich mit seinem
Mantel – er maß nur drei Fuß – und band sich
hundert Denare um.
Er war ein Spitzbube und kannte sein Handwerk.
Er schlich sich durch die Hintertür und durchwatete
den Bach, der am Schlosse vorbeiströmte; dann eilte
er durch den Weingarten und durchmaß das feindliche
Lager, bis er zum Zelte des Emirs gelangte. »Der
große Mohammed, der die Welt regiert,« rief er Lubien
zu, der vor seinem Zelte saß, »erhalte den Kaiser
und alle, die ihm dienen.« »Freund,« antwortete der
Emir argwöhnisch, »er segne auch dich. Doch sage
mir, wer bist du und aus welchem Lande stammst
du?« Galopin, der Schlaue, entgegnete ihm: »Herr,
von jenseits des Meeres komme ich. Noch gestern
abend bei der Vesper war ich ein reicher Kaufmann,
ich führte ein Schiff, wie noch kein Mensch eines sah,
voll Gold und Silber, Seidenstoff und Tuch; zwanzig
Streitrosse waren darauf und zwanzig schöne Maultiere,
die sandte Euch der Herr meines Landes, denn
er ehrt Euch sehr. Macabre hat mir alles weggenommen,
meine Leute hat er mir getötet und mich selbst
ins Meer geworfen. Nun komme ich zu Euch, o
König, daß Ihr mir mein Recht verschafft.« Als der
König das hörte, geriet er außer sich, er richtete sich
auf und legte die Hand an den Kopf: »Zu seinem Unglück
hat das der Schurke erdacht, bei meinem Barte!
Ihr werdet Eure Schiffe und Eure Habe wiederbekommen
und vom Seinigen noch fünfzehnmal soviel dazu,
ehe der Krieg endet.« »Herr,« sagte der Spitzbube,
»an den Waren liegt mir nicht viel, denn ich verstehe
es wohl, mir neue zu erwerben; aber die Rosse bekümmern
mich, denn eines war darunter, das sehr
rühmenswert war: ein prächtiger armenischer Grauschimmel
mit schmalem Kopf und offenem, stolzem
Auge. Kleine Ohren hatte er und zartes Haar, langbeinig
war er und schnellfüßig. Nie war ein besserer
Streithengst im Kampf. Wenn er im Schlachtgetümmel
einen Ritter am Boden liegen sah, so