Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff

Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten - Ernst Tegethoff


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sie erlaubte mir, die Herzen der Menschen

       und ihre geheimsten Gedanken zu erkennen. Einer

       dritten Fee verdanke ich die beste Gabe: es gibt kein

       Land, in das ich mich nicht durch meinen Wunsch allein

       sogleich verfügen kann. Begehre ich ein Schloß,

       so steht es vor mir, ich habe Speise, wann es mir beliebt,

       und zu trinken, wann ich es fordere. In Monmur

       bin ich geboren, wohl vierhundert Meilen weit von

       hier, und dennoch bin ich schneller dort, als ein Roß

       ein Tagwerk Landes durchmißt. Aber du hast noch

       nicht alles erfahren, was ich den Feen verdanke.

       Wisse also, daß es keinen Vogel gibt, keinen Eber,

       keine wilde Bestie, und sei sie auch noch so blutgierig,

       die sich nicht willig zu meinen Füßen legte auf

       ein Zeichen meiner Hand. Endlich weiß ich alle Geheimnisse

       des Paradieses und höre dort oben die

       Chöre der Engel. Nie in meinem Leben werde ich altern,

       und wenn ich zu sterben wünsche, so ist mir an

       Gottes Seite mein Platz bereitet.« Und um seine

       Macht zu zeigen, zauberte Oberon im Nu eine speisenbedeckte

       Tafel hervor. Nach dem Mahl wollten die

       Reisenden aufbrechen, aber Oberon sagte: »Hüon,

       bleib' noch ein wenig, zuerst will ich dir einige von

       meinen Kleinodien geben.« Dann ergriff er mit beiden

       Händen einen Becher. »Hüon,« hub er an, »betrachte

       diesen Becher, damit kannst du die große Macht, die

       Gott mir gab, erproben. Du siehst, dieser goldene Becher

       ist leer. Nun, ich will ihn nach meinem Willen

       füllen.« Bei diesen Worten strich er dreimal mit der

       Hand um das Gefäß, machte das Zeichen des Kreuzes

       darüber, und sogleich füllte sich der Becher mit lauterem

       Wein. »Für alle Lebenden und für alle Toten,

       wenn sie zur Welt zurückkommen würden, liefert dieser

       Becher genügend Wein,« sagte Oberon, »und das

       ist seine Zauberkraft, doch enthüllt sich diese nur in

       den Händen eines reinen Menschen, denn niemand

       kann aus ihm trinken, dessen Herz nicht sündenlos

       ist. Sobald ein Bösewicht den Becher berührt, verschwindet

       seine Kraft. Vermagst du daraus zu trinken,

       so ist er dein.« Hüon brachte den Becher an seine

       Lippen, und dieser blieb voll, und er trank daraus in

       langen Zügen. Oberon zog ihn voll Freude an seine

       Brust und gab ihm das kostbare Gefäß. »Aber trage

       wohl Sorge,« sagte er, »deine Lauterkeit zu wahren,

       nur unter dieser Bedingung helfe ich dir. Sobald du

       nur eine Lüge redest, verliert der Becher seine Kraft

       und du meine Freundschaft.« »Herr,« sagte Hüon,

       »ich gedenke mich wohl zu hüten, und Gott vergelte

       Euch Eure Gabe. Aber nun laßt mich ziehen.« »Noch

       warte ein wenig,« sagte Oberon, »denn hier habe ich

       ein Horn aus lauterem Elfenbein, und da ich dich als

       einen Edelmann ohne Sünde und Fehl habe kennen

       lernen, so will ich es dir schenken. Wenn du dieses

       Horn ertönen lässest, und wärst du auch noch so weit

       entfernt, so höre ich es in Monmur, meiner Stadt, und

       dann werde ich dir mit hundert Bewaffneten zur Seite

       stehen, denn gegen jedermann will ich dir im Kampfe

       helfen. Aber hüte dich, ohne Grund in das Horn zu

       stoßen, sonst gerätst du in Not.« »Herr,« sagte Hüon,

       »ich gedenke mich wohl zu hüten. Aber nun laßt mich

       ziehen.« »Geht, Hüon, und Gott befohlen.«

       Auf der Weiterreise kehrte Hüon in Dunostre ein,

       tötete mit Oberons Hilfe den riesenhaften Herrn des

       Landes, dem auch der Emir von Babylon untertänig

       war, und raubte seinen Ring. Sodann überschritt er

       das Rote Meer und näherte sich allein, denn seine Begleiter

       hatte er in Dunostre zurückgelassen, der Stadt

       Babylon. An einem Feste des heiligen Johannes hielt

       dort der Emir seinen Hof. Kein Mensch konnte das

       Volk zählen, das dort zusammenströmte, man sah Vogelsteller

       und Rossetummler, Arbeiter und Schachspieler,

       solche, die sich mit Jungfrauen ergötzten, und

       solche, die sich im Sommertag ergingen. Hüon gelangte

       zur ersten Brücke und rief den Torwacht an:

       »Laß mich ein!« Jener entgegnete: »Gern, aber zuvor

       sage mir, in welchem Lande du geboren bist. Bist du

       ein Franke, so sollst du um einen Kopf kürzer gemacht

       werden; bist du aber ein Sarazene, so wird die

       Brücke vor dir niederfallen.« Nun handelte Hüon sehr

       töricht. Vor der Menge der Heiden hatte er seines

       Ringes ganz vergessen, und er erinnerte sich auch

       nicht des Gebotes, das Oberon ihm gegeben hatte. Er

       antwortete allzu voreilig: »Ja, ich bin ein Sarazene.«

       Da hatte er gelogen, und Oberon wußte es und zog

       seine Freundschaft von ihm. Vermittels dieser Unwahrheit

       gelangte er über die Brücke, aber vor der

       zweiten fiel ihm der Befehl des Elfenkönigs ein, er

       dachte an seine Verfehlung und geriet vor Schmerz

       fast außer sich. Beim Gekreuzigten schwur er, nie in

       seinem Leben wolle er wieder lügen. Ganz niedergeschlagen

       kam er zur zweiten Brücke und rief mit lauter

       Stimme: »Öffne, Hurensohn, oder der Blitz soll

       dich zerschmettern!« Der Torwacht sagte: »Aus welchem

       Lande stammst du und wie hast du die erste

       Brücke passiert?« »Bei Gott,« sagte Hüon, »du sollst

       es wissen.« Er nahm den Ring des Riesen von der

       Hand und rief dem Wächter zu: »Schau, welches Zeichen

       ich dir weise!« Der Wächter erblickte den Ring,

       erkannte ihn wohl und beeilte sich, die Brücke herabzulassen.

       »Sei mir willkommen, Jüngling,« rief er,

       »was macht mein Herr, der stolze Orgileus?« Hüon

       würdigte ihn keiner Antwort, er wagte nicht zu reden,

       aus Furcht, die Unwahrheit zu sagen.

       Durch die nämliche List gelangte


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