Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
Emirs Gaudise, in welchem alle Arten von Bäumen,
die Gott geschaffen hat, grünten. Dort strömte eine
Quelle, die vom Paradiese kam und deren Wasser
dem hinfälligsten Greise seine Jugend wiedergab und
der ausschweifendsten Frau ihre Jungfrauschaft. Eine
Schlange hütete die Quelle und brachte jedem Bösewicht,
der sich ihr näherte, den Tod. Hüon trat ungehindert
heran, trank aus der Quelle und wusch sich die
Hände und vergaß fast seinen Auftrag. Nur wenn er
an Oberon dachte, zitterte er. Wird der Zwerg noch
einmal kommen, um ihm zu helfen? Er wollte sich
dessen vergewissern und stieß in sein Horn, aber umsonst:
niemand ließ sich blicken. Der Emir saß gerade
beim Mahl, die, welche ihm den klaren Wein eingossen,
begannen beim Klange des Hornes zu singen,
und er selber fing zu tanzen an. »Ihr Barone,« sagte
er, »hört, der dort im Garten bläst, ist gekommen, uns
zu verzaubern. Ich befehle euch, daß ihr euch bewaffnet,
sobald er sein Blasen aufgehört hat. Wenn er entkommt,
sind wir alle beschimpft.« Als Hüon merkte,
daß niemand kam, legte er sein Horn beiseite und
weinte. Dann schritt er die Stufen zum Schloß hinauf,
in den Panzer gehüllt, mit geschlossenem Visier und
das blanke Schwert in der Faust. Ein Großer des Reiches
stand am Tisch und suchte die Aufmerksamkeit
der schönen Emirstochter Esclarmonde, die er heiraten
sollte, zu erwecken, er war ein reicher Mann von
edler Abstammung. Hüon näherte sich, schwang sein
Schwert und schlug dem Heiden den Kopf ab, so daß
dieser auf die Tafel rollte. »Ein guter Anfang,« sagte
er zu sich selber, »um dieses bin ich bei Karl entlastet.
« Der Emir wurde mit Blut bespritzt und schrie:
»Barone, faßt mir diesen Schurken; wenn er entkommt,
sind wir alle beschimpft.« Alle Sarazenen
stürzten sich auf Hüon, der sich nach Kräften verteidigte.
Er nahm den Ring, den er am Finger trug, und
warf ihn auf den Tisch: »Herr,« sagte er, »da seht!
Um dieses Zeichens willen tut mir kein Leid an!« Der
Emir erkannte den Ring und befahl, Hüon zu schonen.
Nun trat dieser auf die Tochter des Emirs zu und
küßte sie dreimal, um sein Wort einzulösen. Esclarmonde
erbleichte, als sie seinen Atem spürte. Leise
sprach sie zu ihrer Magd: »Weißt du, warum ich erbleiche?
« »Nein, bei Gott!« »Sein süßer Hauch hat
mir das Herz erfüllt; wenn ich ihn heute nacht nicht
an meiner Seite habe, komme ich von Sinnen.« Hüon
trat auf den Emir zu und meldete ihm den Auftrag
Karls: er ersuchte ihn, die Taufe anzunehmen, dem
Frankenkaiser zu huldigen und ihm den Tribut zu
schicken, den er verlangte. Der Emir rief: »Dein Herr
ist toll, das alles kümmert mich keinen Pfifferling.
Wenn er mir sein ganzes Erbe gäbe, ich würde nicht
von meinem weißen Barte lassen und von meinen vier
Backenzähnen. Fünfzehn Boten hat er mir schon hierhergesandt,
keinen einzigen hat er zurückkehren
sehen, alle habe ich erwürgen und einpökeln lassen.
Und, bei Mahommed, du sollst der sechzehnte sein.
Nur des Ringes wegen wagten wir dich nicht anzutasten.
So sage mir, mit welches Teufels Hilfe du als
Franke in den Besitz dieses Ringes gekommen bist?«
Hüon wagte nicht zu lügen, da er Oberons Zorn
fürchtete: »Herr Emir,« sagte er stolz, »so wahr Gott
mir helfe, ich will es Euch sagen. Ich habe Euren
Herrn getötet und zerstückelt.« Der Emir stieß einen
Wutschrei aus: »Barone,« rief er, »wollt ihr ihn laufen
lassen? Wenn er entkommt, sind wir alle beschimpft.«
Die Heiden hörten es und griffen Hüon von allen Seiten
an. Nach verzweifelter Gegenwehr entglitt ihm
sein Schwert, er wurde zu Boden geworfen, sein
Horn, sein Becher und seine Rüstung wurden ihm genommen,
und der Emir befragte seine Barone, wel-
Tod er erleiden solle. »Gehängt soll er werden!« riefen
sie. Aber der weise Ratgeber des Emirs wußte
etwas anderes: »Heute ist Johannistag,« sagte er, »da
kannst du kein Urteil fällen, wenn du nicht gegen das
Gesetz verstoßen willst. Man muß diesen jungen
Mann ins Gefängnis werfen und ihn ein Jahr lang
darin lassen. Im nächsten Jahre sollst du ihn am gleichen
Tage befreien und ihm auf offenem Felde einen
Kämpfer gegenüberstellen. Besiegt er diesen, so sollst
du ihn in Frieden ziehen lassen; wird er aber besiegt,
so läßt du ihn hängen.« »Wenn das der Brauch meiner
Ahnen war,« entgegnete der Emir, »so will ich ihn
nicht außer acht lassen.« Hüon wurde ins Gefängnis
geworfen, aber nicht lange sollte er darin schmachten.
Esclarmonde, die sich auf den ersten Blick in ihn verliebt
hatte, ließ ihn frei. Der Emir wurde getötet und
seines Bartes und seiner Zähne beraubt; dann ergriffen
beide die Flucht und gelangten nach vielen weiteren
Abenteuern, bei denen der versöhnte Oberon wieder
Hilfe leistete, nach Frankreich, wo Hüon Land
und Lehen zurückerhielt.
3. Bertha mit den großen Füßen
König Pippin von Franken warb, dem Rate seiner Barone
folgend, um die ungarische Königstochter Bertha
mit den großen Füßen. Das ungarische Königspaar
nahm die Werbung an und sandte die Jungfrau in der
Begleitung ihrer alten Amme Margiste, deren Tochter
Aliste und ihres Hofmeisters Tybert an den Hof des
Frankenherrschers. An einem schönen Augusttage
fand in Paris die Hochzeit statt, und mancher mächtige
Fürst diente dem jungen Paare beim Mahle. Dann
räumte man die Schüsseln fort, und drei Spielleute
zeigten ihre Künste. Als diese ihr Spiel beendet hatten,