Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
sprach, blies der
goldene Trompeter in sein Horn, weil gegen Cleoma-
des Verrat geplant wurde, aber niemand achtete auf
den Ton. Das Roß wurde in den Hof geführt und die
Menge drängte sich gaffend herum. Ein Sattel aus
Ebenholz deckte das Zauberpferd und seine Steigbügel
hatten die Eigenschaft, daß sie sich der Größe
eines jeden Reiters anpaßten. Cleomades, begierig,
das Geheimnis zu erfahren, bestieg den Rücken des
Tieres und drehte an einem Zapfen an dessen Stirn.
Wie der Sturmwind sauste das wunderbare Flugzeug
durch die Luft davon, und die Zurückbleibenden verloren
es alsbald aus den Augen. Der König wandte
sich zornig an Crompart: »Laßt das Pferd umkehren,
es ist schon zu weit fort. Mir scheint, es ist nun hinreichend
erprobt.« »Herr,« entgegnete der Verräter
mit unschuldiger Miene, »es steht nicht in meiner
Macht, das Roß zurückzurufen, denn ich vergaß,
Euren Sohn, als er aufstieg, zu lehren, wie er umkehren
könne. Erst als er fort war, fiel es mir ein. Es
schmerzt mich sehr, doch kann ich ihn Euch nicht
wiedergeben.« »Freund,« sprach der König, »du wirst
nicht das Licht des Tages sehen, bis ich meinen Sohn
wiederhabe. Wahrlich, übel war ich beraten, da ich
die Warnung des Bläsers nicht beachtete, und töricht
handelte ich, daß ich Euch nicht selber Euer Roß versuchen
ließ.« Der Zwerg suchte sich zu verteidigen,
aber das nützte ihm nichts; er wurde gebunden und
ins Gefängnis geworfen, wo er Gelegenheit hatte,
seine Hinterlist zu bereuen.
Den Königssohn indessen trug das Zauberroß in
kurzer Zeit so weit, daß er nicht mehr wußte, welche
Länder und Meere unter ihm vorübereilten. Wohl
merkte er, daß Crompart ihn hintergangen hatte, um
sich seiner zu entledigen, aber sein tapferes Herz verzagte
darum nicht. Er erinnerte sich, daß er den Buckligen
einen Zapfen an der Stirn des Rosses habe drehen
sehen, er tastete oben und unten und fand schließlich
einen Zapfen auf der rechten Seite des Tieres, den
er bewegte: da wandte sich das Pferd augenblicklich
nach rechts. Nun versuchte er einen Zapfen nach dem
andern, bis er wußte, wie er die Maschine, die durch
die Zapfen ihre Bewegung erhielt, steuern müsse.
Schließlich fand er auf der Brust des Holzpferdes
einen Zapfen, der veranlaßte, daß das Flugzeug sich
so sanft, wie ein Aprilregen auf die junge Saat fällt,
zur Erde herabließ und stille stand. Er wußte jetzt,
wie er in die Höhe und abwärts, wie er vorwärts und
rückwärts fliegen könne, und gar gern wäre er nach
Spanien zurückgekehrt, aber so weit hatte ihn das
Roß schon getragen, daß er nicht mehr wußte, welche
Richtung er einschlagen müsse, und zudem war er
müde und hungrig, denn er reiste nun schon einen Tag
und eine Nacht mit ungeheurer Geschwindigkeit. Er
gedachte also, zur Erde herabzugleiten, um sich auszuruhen.
Er blickte unter sich und gewahrte, daß er
über einer weiten Ebene schwebte, durch welche sich
ein Fluß schlängelte. Ein festes und schönes Schloß
lag unter ihm, umgeben von Wäldern, Weinbergen
und Wiesen. Von Konstantinopel bis Österreich hätte
man kein prächtigeres Schloß finden können. Hier
herrschte ein König mit Namen Carmans, der eine
wunderschöne Tochter besaß. Neben dem Tor des
Schlosses bemerkte der Jüngling einen hohen Turm,
der aus Marmorstein gehauen und mit Blei gedeckt
war. Auf diesen Turm zu nahm er seinen Flug und
steuerte seine Maschine so, daß er auf der Spitze desselben
landete. Er stieg vom Roß und erblickte ein
kleines Pförtchen, durch welches er in das Innere des
Schlosses dringen konnte. Er ließ also sein Flugzeug
oben auf dem Dache und eilte die Stufen hinab, denn
der Hunger trieb ihn. Durch eine Flucht von prächtigen
Sälen irrte er, bis er in einen Raum gelangte, in
welchem eine Tafel aus Ebenholz und verziert mit
kostbaren Steinen gedeckt war. Mancherlei Speisen
luden da zum Mahle, und in goldenen Pokalen funkelte
der Wein. Fleisch und Wein aber waren ein Opfer,
welches die Bewohner dieses Landes am ersten des
Mai ihren Göttern darbrachten, um von ihnen Fruchtbarkeit
zu erflehen. Der König und seine Großen hatten
ein wenig von den Speisen genossen, dann hatten
sie sich in einen anderen Saal begeben, wo böhmische
Flötenspieler und deutsche Geiger zum Tanze auf-
spielten. Dort war der ganze Hof bis Morgengrauen in
ausgelassener Lust versammelt und so blieb die Ankunft
des Fliegers unbemerkt. Cleomades wusch sich
seine Hände an einem Wasserstrahl, der aus dem
Maule eines silbernen Löwen hervorsprudelte und
setzte sich zum Mahl, während die Klänge der Fiedeln
und Harfen aus dem Tanzsaal herübertönten. Als
er sich gütlich getan hatte, wandte er sich zur offenen
Tür des Saales und trat in ein Gemach, in dem ein
Mann von riesenmäßigem Wuchse, doch ohne Bart,
angekleidet auf einem Lager schlief, das von Waffen
aller Art rings umgeben war. Der Jüngling schlich
sich an dem Schläfer vorbei und trat in einen Säulengang,
der einen Blumengarten umgrenzte. Er stand
still und sah sich um. Das Gärtlein zeigte keinen anderen
Ausgang als eine Pforte aus Ebenholz; zu dieser
wandte sich der Königssohn und drückte auf die Klinke,
worauf sich die Türe mühelos öffnete. Cleomades
trat in ein Gemach von undenklicher Pracht; dieses
hatten der König und die Königin für ihre Tochter
Clarmondine hergerichtet, welche sie über alles liebten.
Sie zu bewachen diente der riesenhafte Eunuch,