Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff

Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten - Ernst Tegethoff


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wurde. Er sah, wie jeder auf seine Weise dem Herrn

       diente, wie die Priester am Altar ihr heiliges Amt

       vollzogen, wie die Diakonen die Evangelien lasen,

       wie die Klosterschüler im Chor den Psalter sangen,

       und wie selbst der kleinste von ihnen ohne Zaudern

       das Vaterunser aufsagen konnte. Da stand er beschämt:

       ach er allein, er konnte nichts! Oft stand er

       lauschend vor den Zellen und hörte Klagen und We-

       herufe von drinnen hervortönen, und wie er den

       Grund des Weinens reiflich überlegte, fand er, daß die

       da drinnen Gott für ihre Schuld um Gnade anflehten.

       »Ach,« sprach er, »was tue ich hier? Ich kann nichts

       als müßig stehen und gaffen! Ich bin das Brot nicht

       wert, das man mir gibt. Ach, wenn man es merkt, so

       werden sie mich mit Schande verjagen, weil ich zu

       gar nichts nütze bin!« In seinem Gram flüchtete er aus

       des Tages Licht in eine unterirdische Kapelle, wo

       zwischen Kerzen das Bild der Gottesmutter stand.

       Dort verkroch er sich sorgenvoll in einen Winkel.

       Plötzlich klang tief und voll die Münsterglocke, welche

       die Brüder zur Messe lud. Er hob das Haupt und

       sprang auf: »Soll ich hier liegen, während alle andern

       wetteifern, Unsere Frau zu loben? Was säum' ich

       noch? Bin ich nicht auch in mancherlei Künsten erfahren?

       Nach Kräften dient ihr ein jeder, so will auch

       ich tun, was ich kann!« Rasch warf er die lange Kutte

       beiseite und gürtete sich sein dünnes Jäckchen um die

       Lenden. Dann trat er demutsvoll vor das Bild der

       Gottesmutter und sprach: »Dir, Königin ob allen Königinnen

       befehle ich Seele und Leib! Zu dir komme

       ich voll Vertrauen, oh nimm mit meinem Eifer vorlieb!

       Die schönsten Spiele, die ich kann, wähle ich dir

       zur Lust, so wie ein Böcklein auf der Heide vor seiner

       Mutter hüpft und springt. Du verschmähst nie, was

       dir ein Herz aus Liebe bietet, sieh, was ich habe,

       bring ich dir!« Und während droben die Hymnen erschollen,

       beginnt er mit vollen Kräften zu tanzen,

       bald vor- und bald rückwärts, auf und nieder, er geht

       auf den Händen durch die Kapelle und überschlägt

       sich in der Luft, alle Arten von Tänzen springt er mit

       kunstgerechtem Schwung, und nach jedem Tanz verneigt

       er sich vor dem Bilde: »Das tu' ich nur für dich,

       daß sich dein Auge daran erfreue, erfreust du doch die

       ganze Welt!« Und wiederum hebt er an, die Hand auf

       die Stirn gelegt, mit kleinen Schritten zierlich in der

       Runde zu gehen, dabei weint er und betet: »O Frau,

       dir singe ich Ehre und Preis mit Herz und Leib, mit

       Hand und Fuß. Da droben singen sie Lobeshymnen:

       laß mich dein treuer Tänzer sein und gib mir in deinem

       himmlischen Palast eine kleine Wohnung, denn

       dein bin ich ganz und gar.« Solange der Sang von

       oben klingt, tanzt er ruhelos, bis ihm der Atem vergeht

       und die Glieder den Dienst versagen: da sinkt er

       in Ohnmacht taumelnd zu den Füßen der Himmelskönigin

       nieder. Und siehe: die Strahlende neigt sich mit

       gütigem Lächeln hernieder und fächelt ihn mit ihrem

       Tüchlein, und mit ihrer süßen Gnadenhand kühlt sie

       das Feuer seiner Schläfen.

       Ein Mönch hatte von draußen diese Vorgänge mit

       angesehen und heimlich den Abt geholt. Dieser ließ

       am anderen Tage den Laienbruder vor sich laden. Der

       Arme erschrak zu Tode, denn er glaubte, er solle

       wegen seines Müßiggangs vertrieben werden. Er fiel

       also voll Zagen vor dem Abt auf die Knie und sprach:

       »O Herr, ich weiß, ich kann hier nicht bleiben, doch

       ich will tun, was ihr befehlt. Ich will hinaus ins Elend

       gehen!« Doch der Abt neigte sich voll Ehrfurcht,

       küßte ihn und bat ihn, zu Gott für ihn und die Brüder

       zu beten, damit sie einst von seinen Gnaden erben

       möchten. Da ward der Arme vor Freude krank und

       kam zu sterben. Als aber sein letztes Stündlein gekommen

       war, da trugen der Engel Scharen den Tänzer

       Unserer lieben Frau zum allerhöchsten Sternenzelt.

       Der Judenknabe

       Die Juden, die überall in der Welt verstreut sind, hatten

       sich wie in jeder anderen guten Stadt, so auch in

       Bourges niedergelassen und lebten dort nach ihrem

       Gesetz. Nun geschah es, daß die schöne Osterzeit

       nahte, und alle Welt feierte mit Glockentönen und Gesängen

       die Auferstehung des Herrn. Männer, Frauen

       und Kinder eilten in freudiger Hast zum Münster und

       siehe, ein kleiner Judenknabe folgte den Gespielen in

       das Gotteshaus, wie er ihnen sonst zum Spiele nachlief.

       Er trat in den hohen Dom, da glänzten die Bilder,

       gleißend von Gold, da funkelten die Gefäße, da glühten

       die Kerzen, und Freude ergriff das Büblein, das

       zuvor nie solches sah. Er tat den anderen Kindern

       alles nach: bald schlug er sich an die Brust, bald bekreuzte

       er sich und dann warf er sich nieder in den

       Staub. Zwischendurch betrachtete er die Bilder und

       besonders gefiel ihm eines: das war eine hoheitsvolle

       Frau, die einen lächelnden Knaben an ihrer Brust

       hielt. Als der Gottesdienst zu Ende war, ging alt und

       jung zum heiligen Abendmahl, und jeder schlug sich

       demütig vor dem Sakrament für seine Missetaten an

       die Brust und flehte aus Herzensgrund um Erbarmen.

       Das Kind trat mit den andern Christen vor und empfing

       den Leib des Herrn, ohne zu wissen, was es tat.

       Dabei kam es ihm vor, als ob das Bild der glorreichen

       Jungfrau und Mutter aus seinem Rahmen heraustrete

       und hinter dem Priester hergehend die Speise austeilen

       helfe.

       Indessen machten sich Vater und Mutter auf die

       Suche nach dem Knaben, überall auf den Straßen

       fragten sie nach ihm und jammerten, denn sie glaubten,

      


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