Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
bewahren. Während er so in frommen Gedanken
befangen war, hörte er das Glöcklein eines Einsiedlers
läuten und sprach: »Ich will in die Kapelle gehen,
um meine gewohnten Gebete zu sprechen und wenn
möglich eine Messe zu hören. Mein Geschäft ist nicht
so dringend, und bald wird der Gottesdienst beendet
sein.« Er wandte sein Pferd nach rechts, ritt den
Hügel, auf welchem die Klause des Eremiten stand,
hinauf und betrat die Kapelle, während der heilige
Mann die Messe sang. Als aber die Wandlung vollzogen
wurde und der Jüngling unter Tränen an seine
Brust schlug, siehe, da schwebte eine weiße Taube
hernieder, welche einen Brief in ihrem Schnabel trug.
Diesen ließ sie auf den Altar niederfallen. Nachdem
der Einsiedler den Gottesdienst beendet hatte, küßte
er das Schreiben dreimal und öffnete es sodann. Der
Brief gebot dem Eremiten, er solle den Jüngling zurückhalten,
bis die Mittagsstunde vorüber sei, denn
Gott und die heilige Jungfrau, welche ihn in ihrer Hut
hätten, wollten ihn aus Gefahr retten. Der Einsiedler
trat auf den Jüngling, der schon sein Roß wieder besteigen
wollte zu und bat ihn, bis Mittag bei ihm zu
verweilen. Nach längerem Zögern willigte dieser ein
und ließ sein Roß grasen; der heilige Mann jedoch
hielt ihn mit freundlichen Worten so lange fest, bis
die Sonne im Mittag stand.
Der Lehrmeister, welcher nicht wußte, was aus dem
Knaben geworden sei, begab sich unterdessen zum
König, und dieser befahl ihm, unverzüglich in den
Wald zu reiten und den Förster zu fragen, ob er des
Königs Gebot erfüllt habe. Der Meister ritt in den
Wald und sprach zum Förster: »Der König wünscht
zu wissen, ob sein Wille geschehen ist.« »Nein,« versetzte
jener, »noch nicht, aber gleich soll er geschehen.
« Mit diesen Worten packte der Förster den
Schurken und warf ihn ins Feuer, wo er alsbald zu
Asche verbrannte.
Alsbald kam der Knabe zu dem Feuer; diesem rief
der Förster von weitem entgegen: »Ich weiß wohl,
was Ihr wollt! Geht, und sagt dem König, daß ich seinem
Befehle nachgekommen bin.« Sogleich wandte
der junge Mann sein Roß, um dem König diese Botschaft
zu überbringen. Als dieser die Wahrheit erfahren
hatte, liebte er den Knaben noch inniger als früher
und ließ ihn zu großen Ehren gelangen.
Von der Königin, die ihren Seneschall tötete
In Ägypten lebte einst ein König, der war jung, schön
und reich. Gar sehr liebte er Hunde und Falken und
trieb oft mit ihnen seine Lust. Eines Tages war er zum
Jagen in den Wald gegangen; als er aber die Spur
eines Hirsches verfolgte, brach ein furchtbares Unwetter
los. Jeder suchte sich einen Unterschlupf, und der
König blieb ganz allein; er ritt in ein Unterholz und
verbarg sich dort so lange, bis das Wetter sich verzogen
hatte. Der König ritt nun durch den Wald und
suchte seine Begleiter, aber er hörte weder Horn noch
Hund und wußte nicht, welchen Weg er nehmen sollte.
Schon brach die Nacht herein, da fand er einen
Pfad, der, wie er glaubte, ihn zu einer Herberge führen
müsse. Und wirklich, wie er aus dem Walde trat,
erblickte er einen Strom und ein Schloß darüber, und
er dankte Gott, der ihm den Weg gewiesen hatte.
Müde klopfte er an die Pforte der Burg, die Zugbrükke
wurde herabgelassen, und der Schloßherr ging dem
späten Gast, den er alsbald als seinen Lehnsherrn erkannte,
entgegen, um ihn zu bewillkommnen. Im Saal
begrüßten ihn die Gattin und die Tochter des Ritters,
eine Jungfrau von außergewöhnlicher Anmut. Als der
König die Maid erblickte, wurde sein Herz bewegt,
und er hielt ihre Schönheit für wertvoller als alle seine
Schätze. »Wenn sie meine Liebe nicht zurückweist,«
sagte er zu sich selber, »so werde ich sie zur Königin
machen. So soll es sein! Ich will sie besitzen!« Das
Abendessen wurde aufgetragen, und die Jungfrau, die
den Funken der Liebe in ihres Herren Herzen entzündet
hatte, saß dem König gegenüber. Nach einer
schlaflosen Nacht trat der junge König vor den
Schloßherrn und trug ihm seinen Wunsch vor. Dieser
warf sich ihm zu Füßen und dankte ihm die Ehre
unter Tränen; darauf wurde allsogleich die Verlobung
gefeiert. Kaum war die Feier beendet, so drang das
Gefolge des Königs, das ihn den ganzen Tag gesucht
hatte, in das Schloß, und alle freuten sich, ihn gesund
zu finden.
Der König hatte einen Seneschall, der alle seine
Geschäfte besorgte, aber der war ein habgieriger
Mann und von niedriger Gesinnung. Sein Herr, der
ihm in allem vertraute, erzählte ihm seine Verlobung
mit der Tochter des Ritters. Er ließ seine Braut rufen,
und als der Seneschall sie erblickte, erstaunte er über
ihre Anmut und lobte gar sehr den Entschluß seines
Herrn. Bald darauf nahm der König Urlaub, nachdem
er zuvor seiner Liebsten versprochen hatte, er wolle
über drei Tage wiederkommen, doch nur im geheimen
und unter vier Augen. Da beging die Jungfrau eine
Torheit, die sie viel Tränen kosten sollte, sie zeigte
nämlich ihrem Geliebten, wie er heimlich in ihr Ge-
mach gelangen könne und gab ihm den Schlüssel zu
einer verborgenen Pforte. Während des Heimrittes gestand
der König seinem Seneschall, was er vorhabe.
Dieser tadelte ihn, daß er sich und die Jungfrau der
Schande aussetzen wolle und drang so lange in ihn,
bis er versprach, die Sache auf sich beruhen zu lassen
und den Schlüssel seinem Seneschall überantwortete.
Als der Treulose das Schlüsselein in der Hand hielt,