Im Zeichen des Rosenmonds. Karl-Heinz Biermann
„Und in Istanbul kennen Sie wirklich keinen Menschen?“
Yusuf schüttelte den Kopf. Er dachte an seinen Freund und an Gülay. Wie lange war das schon her? Nach ihrer Hochzeit war er nie mehr dort gewesen, auch später nicht, als er mit seiner Familie immer wieder mal von Deutschland aus zu seinen Verwandten nach Izmir in den Urlaub gefahren war. Dieses kleine Dorf hatte er jedes Mal abseits liegen lassen.
„Wer ist dieser Jemand da bei Izmir?“, wollte Blohm wissen. „Erzählen Sie mir von ihm.“
„Es ist ein Freund aus alten Zeiten, lange her.“ Yusuf wusste nicht, wo er anfangen sollte. Als sie Jungen waren? Das würde Blohm nicht interessieren. Die Geschichte mit Gülay wollte er nicht erwähnen.
„Wir heckten so manche Streiche aus, machten alles zusammen“, erzählte er dann doch, „pflückten oft fremde Früchte oder entführten schon mal einen Esel. Manchmal halfen wir den Bauern bei der Ernte.“
Weiter voraus sah er seitwärts der Straße mehrere Lastwagen nebeneinander stehen. Doch noch ein Rastplatz, dachte er, vielleicht einer, der nicht auf der Karte verzeichnet war. Er wies Blohm darauf hin und ging mit der Geschwindigkeit runter. Blohm nickte zustimmend.
„Mit achtzehn mussten wir beide zum Militär“, fuhr Yusuf mit der Geschichte um seinen Freund fort, „als wir uns danach wiedertrafen, war er verheiratet.“
Er lenkte das Taxi auf den Parkplatz, der sich tatsächlich als eine, wenn auch nur kleine Raststätte erwies; abseits standen einige Leute vor einem Imbiss-Stand, er vermutete die Fahrer der Lastwagen dort.
„Kurz darauf ging ich als Gastarbeiter nach Deutschland, das war vor dreißig Jahren.“ Er stieg aus dem Auto. In der Tür zu Blohm gebückt sagte er ihm, dass er mit den Fahrern sprechen wollte. Blohm nickte wieder.
Yusuf wollte es geschickt anstellen und so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich ziehen, die Fahrer warfen schon ihre Blicke nach dem Taxi. Er bestellte eine Dose Coca-Cola und trank sie am Tresen des Imbiss-Standes, während ihn die Fahrer musterten. Mindestens zwei von ihnen, so konnte er hören, waren Türken.
Er kaufte sich noch Falafeln, die auch die Fahrer aßen. Die Falafeln wurden ihm in einem aufgeklappten Fladenbrot gereicht und da sie ihm sehr gut schmeckten, schloss er daraus, dass die Lkw-Fahrer diesen Rastplatz des besonderen Imbisses wegen ansteuerten, eine für diese Gegend untypische Speise, die eigentlich erst im arabischen Raum vorkam und dort sehr beliebt war. Es schien ein Insider-Rastplatz zu sein, der daher auf keiner Karte verzeichnet war.
Aufmerksam sah er zu einem Mann, der gerade bezahlte. Er schaute ihm nach, wie er zu seinem Lastwagen ging, einem langen Sattelzug mit ausgebeulter Abdeckplane über seiner Ladung. An dem Nummernschild erkannte Yusuf, dass es ein Bulgare war. Er sah wieder zu den anderen. Die kauten und tranken und sie redeten türkisch. Dann blickte er zum Taxi und registrierte, wie Blohm zu ihnen herübersah. Yusuf wurde sich seiner Sache immer sicherer.
Er musste fast eine halbe Stunde warten, bis einer der Fahrer Anzeichen machte, dass er demnächst seine Pause beenden würde. Als er endlich zu seinem Lastwagen ging, hing sich Yusuf an ihn, für die anderen so unauffällig, wie es gerade ging. Es war einer der Türken.
Der Fahrer hatte den Lastwagen schon angelassen, als Yusuf zu ihm an der noch geöffneten Fahrzeugtür hochsah und auf Türkisch zurief, dass er ihm ein Geschäft vorzuschlagen hätte. Der Fahrer hielt ihm seinen Kopf entgegen, und es sah aus, als würde er angestrengt hinhören, stellte dann den Motor ab, um besser verstehen zu können, was ihm da Merkwürdiges vorgetragen wurde.
Yusuf kehrte zum Taxi zurück. Er sagte nichts, als er dem abfahrenden Lkw hinterherschaute. Blohm schien zu lauern. „Und? Wohl keinen Erfolg gehabt bei Ihren Kollegen?“
Yusuf ließ den Wagen an. Er sah zu den Fahrern am Imbiss-Stand hinüber, als er langsam über den Rastplatz steuerte. Aber die waren anscheinend immer noch mit ihrer Pause beschäftigt und schenkten dem Taxi keine Beachtung mehr. Yusuf bog auf die Hauptstraße ab.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Blohm harsch. „Die Grenze ist nicht mehr weit. So langsam muss uns etwas einfallen.“
„Halten Sie Ihr Geld bereit.“
Blohm schaute verdutzt.
„Sehen Sie den Lkw dort unter den Mandelbäumen in der Parkbucht? Der hat eine Panne.“
„Sie meinen, das ist der Lastwagen von vorhin?“
„Genau. Wir fahren jetzt dicht an ihn ran. Wenn wir ausgestiegen sind, müssen Sie dem Fahrer Ihr Geld zeigen. Ich sicherte ihm tausend Euro zu und er will das Geld vorher sehen, bevor Sie bei ihm einsteigen. Das ist doch in Ihrem Sinne?“
Blohm nickte, er schien beeindruckt, wollte Yusuf erkennen.
Auf der zur Hauptstraße abgewandten Seite des Lastwagens zeigte Blohm dem türkischen Fahrer, der so tat, als würde er nach irgendetwas unter seinem Fahrzeug schauen, einige Hundert-Euro-Scheine, die er aber in seiner Brieftasche ließ.
„Sagen Sie ihm, dass er das Geld bekommt, sobald ich sicher über die Grenze bin“, sagte er zu Yusuf.
Blohm kletterte die Stiegen zum Fahrerhaus hoch. Der Fahrer hob die schmale Liege in der Schlafkabine an und bedeutete ihm, dass er darunter kriechen sollte. Der Fahrer nahm noch eine Wolldecke und deckte ihn mit dieser völlig zu. Yusuf sah, wie der Fahrer die Liege vorsichtig runterließ, als wollte er prüfen, ob Blohm vollständig darunter passte.
„Er bekommt doch keine Luft da drinnen.“
Der Fahrer hob das kleine Bett wieder an. „Schon gut, ich mach’s erst kurz vor der Grenze zu, er wird schon nicht ersticken. Ich fahre jede Woche rüber, die kennen mich dort. Und wenn die wirklich kontrollieren wollen, muss dein Freund noch etwas mehr Geld rausrücken.“ Er rieb seinen Daumen mit dem Zeigefinger und Yusuf erwartete, dass er spöttisch grinsen würde, doch der Fahrer hantierte ernst und beflissentlich, genauso wie vorher. Der Motor des Lastwagens sprang an. Blohm schlug die Decke zurück und kam mit seinem Kopf hervor. Yusuf fand dieses Bild lächerlich.
„Bis heute Abend in Istanbul“, sagte Blohm und sah zu ihm runter, „wir treffen uns wie verabredet im Hotel in Fatih.“
„In Ordnung“, brummte Yusuf und sah zu, wie Blohm sich wieder ganz unter die Liege quetschte. Er merkte ihm an, dass ihm dieses ganze Versteckspiel offensichtlich überhaupt nicht behagte, und ein spöttisches Grinsen legte sich über sein Gesicht.
4
Yusuf ließ den Lastwagen vor sich herfahren. Erst fühlte er sich befreit von der nervösen Unruhe, von der er noch vor ein paar Stunden befallen war, immer auf eine günstige Gelegenheit hoffend, das Taxi in einem unbeobachteten Moment unter die Lupe nehmen zu können. Doch nun überkam ihn Furcht, als er an die brisante Fracht nur wenige Zentimeter unter sich dachte, und er führte sich angesichts des nahenden Grenzübergangs Bilder vor Augen, die ihm Angst machten. Er dachte an die schrecklichen Szenen, die ihn mittags aus diesem Traum katapultiert hatten, aber es war ja, zu seiner Erlösung, nur ein Albtraum gewesen, wie er sich jetzt selber zusprach.
Doch die Angst blieb und die Furcht, an der Grenze mit dieser gefährlichen Ladung aufzufliegen, und jetzt ärgerte es ihn, unter das Taxi geschaut zu haben. Wüsste er nicht, was er da transportierte, wäre er unbekümmert der Grenze entgegengefahren, so wollten ihm seine Gedanken einleuchten.
Er hielt nach Schildern Ausschau, die auf eine Abfahrt von der Autobahn hinwiesen, wo er hätte wenden können, in die andere Richtung, zurück nach Hause. Immer fester umkrampften seine Hände das Lenkrad, es schien ihm, als steuerte das Taxi wie von selbst, immer geradeaus, und er wusste, dass er nichts anderes tun konnte.
Seine Blicke ließen ab vom Fahrbahnrand, ihm wurde klar, dass es keine Abfahrt mehr bis zur Grenze gab. Er sah zu dem Lastwagen vor sich und ließ sich von ihm ziehen, weiter und immer weiter und immer näher dem Land seiner Jugend zu. Er sah wieder die Bilder von früher, die frohen Sommertage mit seinem Freund und mit Gülay.
An