Lazarus. Christian Otte
schaute sich im Raum um. Diese ganze Situation war verwirrend genug. In der Pathologie aufzuwachen und von einem Arzt zu hören, dass man Auferstanden war, war schon angezogen schwer zu ertragen. Aber seine Tuchwindel trieb das ganze ins Lächerliche.
Wolk zeigte auf einen Beutel auf dem Schreibtisch, aus dem er zuvor die Gläser geholt hatte.
„Ihre Kleidungsstücke befinden sich in dem Beutel. Das ist es doch, wonach Sie suchen.“
„Eigentlich habe ich ein Fenster gesucht, aus dem ich springen kann.“
„Das finden Sie eine Etage höher. Die Pathologie liegt wie in den meisten Krankenhäusern im Keller. Außerdem kann man von hier die Kunstfehler am einfachsten in der Spree entsorgen.“
Alex sah von dem Beutel, in dem er gerade nach einer Hose kramte, auf und sah Wolk teilweise missbilligend, teilweise amüsiert an.
„Habe ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit?“, fragte Wolk nach.
„Solange bis ich angezogen bin, können sie ruhig erzählen.“
„Nur fair. Sobald wir uns unterhalten haben, werde ich ihnen auch ihre übrigen persönlichen Habseligkeiten aushändigen.“ Alex griff den ganzen Beutel und verschwand hinter einem Mauervorsprung, der ihm ein wenig Sichtschutz gewährte.
„Die Organisation für die ich tätig bin nennt sich 'Zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle für trans- und metahumane Aktivitäten.“
Alex blickte hinter dem Vorsprung hervor. „Bitte was?“
„Zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle für trans- und metahumane Aktivitäten. Oder kurz Zentrale.“
„Natürlich. Wieso habe ich das nicht gleich beim ersten Mal verstanden?“ Alex verdrehte die Augen und verschwand wieder um sein Hemd aus dem Beutel zu kramen. Hatte das Hemd nicht einen anderen Blauton, als er es vor seiner Verabredung aus dem Schrank genommen hatte?
„Es gab da einen … nennen wir es Mal: Zwischenfall … der dazu geführt hat, dass wir uns hier getroffen haben.“
„Kein Problem, ich bin hier raus und wir vergessen die Sache“, sagte Alex, während er sich das Hemd zuknöpfte.
„Nun, ich kann sie natürlich nicht festhalten. Aber ich rate Ihnen doch dringend, sich etwas ausführlicher mit mir zu unterhalten.“
„Und warum sollte ich das tun?“
„Nun, erstens wäre da Ihr Hemd.“
Alex trat aus seiner Umkleideecke heraus und sah was er meinte. Wolk hielt das Hemd vor seine Brust, wie einen Vorhang. Es war mit Sicherheit das Hemd, das Alex am Samstag getragen hatte. Er erkannte die Make-Up-Spuren von Anna an der Schulter. An einigen Stellen konnte er auch noch den Blauton erkennen, den das Hemd hatte. Doch das meiste an dem Hemd war schwarz von getrocknetem Blut. Das konnte er riechen. 3 Löcher an den Stellen, wo ihn die Kugeln getroffen hatten. Eins dort, wo die Leber saß, zwei in die Brust. Er wusste genug über den menschlichen Körper um zu wissen, dass solche Verletzungen hätten tödlich verlaufen mussten.
Die mögliche Konsequenz, die sich daraus ergab, ließ ihn auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. Die Schusswunden, die Blutmenge auf seinem Hemd, das kann man eigentlich nicht überleben.
„Angenommen, ich glaube ihnen. Angenommen, ich bin wirklich gestorben und wieder auferstanden. Was bin ich dann?“
„Sie sind zunächst mal jemand, der einen Drink brauchen kann“, sagte Wolk, schob ihm das Whiskyglas wieder hin und setzte sich auf den zweiten Stuhl am Tisch.
Alex nippte wieder daran, hielt kurz inne und kippte sich dann den ganzen Whiskey in einem Zug rein.
„Bin ich ein Zombie?“, fragte Alex mit besorgter Stimme. Von all den irrationalen Ängsten die ihn sein Leben lang begleitet haben, schien ihm diese am logischsten und zugleich irgendwie tröstlich.
Wolk setzte sein Glas ab, beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne und sah Alex direkt in die Augen: „Was wissen Sie über Vampire?“
8
„Sollten wir nicht irgendwem Bescheid geben, dass ich wiederauferstanden bin. Nicht das mich jemand für einen Zombie hält und mir spontan den Kopf abschlägt“, fragte Alex als er und Wolk die Treppe hinaufstiegen, die sie aus der Pathologie führte. Wolk hatte ihn überredet mit ihm an einem neutraleren Ort zu gehen und weiteres zu besprechen. Er wusste nicht was er davon halten sollte mit einem Fremden an einen ihm unbekannten Ort zu gehen, kurz nachdem dieser ihm gesagt hatte er sei angeblich ein Vampir. Andererseits, er war anscheinend gerade von den Toten auferstanden, was hatte er also zu verlieren. Wolk hatte den Kittel gegen ein dunkelgraues Sakko getauscht, an dessen Revers ein verzerrtes F als Anstecknadel steckte.
„Diese Fixierung auf Zombies ist faszinierend“, sagte Wolk und drückte die Tür für das Erdgeschoss auf.
„Popkultur“, antwortete Alex und zuckte mit den Achseln.
Alex betrachtete Wolk aus dem Augenwinkel. Er war gut anderthalb Köpfe größer, hatte kurze, dunkle Haare und war ihm mit Sicherheit an Körperkraft überlegen. Sein Anzug schien maßgeschneidert zu sein, denn Alex konnte sich nicht vorstellen, dass es Anzüge in dieser Größe von der Stange gab.
„Keine Angst, wir haben alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Offiziell liegen Sie auf der Intensivstation. Es wird niemandem auffallen, dass Sie tot waren“, erklärte Wolk.
„Aber die Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern“, hakte Alex nach.
„Lassen Sie die mal unsere Sorge sein. Darf ich du sagen? Dieses ewige Gesiezte geht mir auf die Nerven.“
Alex nickte.
„Danke. Also ich kann dir die Details gern später erklären, tun aber im Moment nichts zur Sache.“
Wolk öffnete die Tür ins Freie. Alex folgte ihm nach draußen. Sie standen zwischen einer Reihe unterschiedlich großer Backsteingebäude, von denen die Pathologie eines der kleineren war. Das größere, an dem sie vorbeigingen, erinnerte Alex auf dieser Seite an alte Schlösser oder Klöster mit den von Bögen eingefassten Balkonen. Zur Rechten konnte er zwischen den Gebäuden einen Blick auf den Hauptbahnhof werfen.
„Wo gehen wir hin?“, fragte Alex.
„Hier um die Ecke gibt es ein hervorragendes Restaurant. Sicher hast du Hunger.“
Zugegebenermaßen war Alex echt hungrig, aber mit einem Typen, der einen für einen Vampir hielt, essen zu gehen, war vielleicht nicht die beste Idee, der er je zugestimmt hatte. Andererseits hatte Alex wirklich Hunger. Solange sie in der Öffentlichkeit blieben, war es wohl vertretbar.
Tatsächlich waren sie nur etwa fünf schweigsame Minuten auf der Straße unterwegs, als Wolk ihm die Tür zu einem Restaurant aufhielt, das Alex bisher nur aus Bens Erzählungen kannte. Ein Ober begrüßte die beiden und brachte sie an einen Tisch im schlecht einsehbaren, unteren Bereich, der unter Straßenniveau lag. Alex meinte zwischen Wolk und dem Ober ein kurzes Nicken erkannt zu haben. Kaum hatten sich die beiden gesetzt wurden ihnen zwei Speisekarten gereicht.
„Die Herren wissen bereits, was sie trinken wollen?“
„Ein Wasser und ein Glas ihrer Hausmarke bitte“, bestellte Wolk, den Blick bereits in der Karte versenkt.
„Für mich auch bitte ein Wasser. Ein großes bitte“, sagte Alex, den Blick strickt auf Wolk gerichtet.
Der Ober ging. Da sein Gegenüber keine Anzeichen machte die Unterhaltung wiederaufzunehmen, griff Alex zur Karte und blätterte darin herum.
„Du solltest das Entrecôte probieren, das ist hier wirklich gut“, empfahl ihm Wolk, immer noch hinter der Karte verschanzt.
„Das sollte es auch, bei dem Preis“, staunte Alex, als er die Stelle in der Karte fand.
Als Alex die Karte weglegte kam gerade der Ober mit den Getränken.