Lazarus. Christian Otte

Lazarus - Christian Otte


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und ihre Arme um seinen Hals schlang.

      „Ist ja gut, Mom.“ Er konnte sehen, wie die Anspannung von ihr abfiel. Die dunklen Augenringe kannte er noch aus der Zeit nach seiner Transplantation. Er wünschte er hätte ihr erzählen können, dass sie sich keine Sorgen um ihn machen brauchte. Aber er hatte es ihr schon so oft gesagt und offensichtlich half das nicht. Wenn er ihr etwas über seine neue Zugehörigkeit zu einer bisher unbekannten Spezies erzählen würde, würde das weniger ihre Bedenken zerstreuen, sondern eher dazu führen, dass sie ihn „zu seiner eigenen Sicherheit“ in eine psychiatrische Anstalt einweisen würde. Verständlich.

      „Wie geht es Oma?“, fragte er um das Thema von sich abzulenken.

      „Der geht es gut. Benjamin hat einen Pflegedienst organisiert, der sich um sie kümmert, solange ich hier bin.“

      „Paps und ich haben dir angeboten, den Service auch sonst in Anspruch zu nehmen, damit du dich mal ein bisschen um dich kümmern kannst“, sagte Ben, der noch immer neben der Tür stand.

      „Ich will niemandem zur Last fallen“, winkte Maria ab.

      „Du fällst damit niemandem zur Last. Dafür ist der Service da. Es ist niemandem geholfen, wenn du dich selbst dabei aufreibst“, redete Ben auf sie ein.

      Mit einer Handbewegung wischte sie sein Argument beiseite und wandte sich wieder ihrem Sohn zu. „Wichtig ist, dass du schnell wieder gesundwirst.“

      „Ich bin hier in den besten Händen“, versuchte er sie zu beruhigen.

      „Ich hoffe der Service ist vorzüglich“, warf Ben ein.

      „Bisher kein Grund zu Beanstandungen, und du,“ wieder an seine Mutter gerichtet, „schläfst dich erst mal aus. Raus hier. Der Arzt hat mir Ruhe verordnet, und wenn du hier bist, kriege ich die nicht.“

      „Aber willst du mir nicht wenigstens erzählen, was überhaupt passiert ist?“, protestierte sie.

      „Das ist die gleiche Geschichte, die ich dir morgen erzählen kann. Wenn du jetzt so freundlich wärst zu gehen.“ Alex schob sie ein Stück Richtung Tür.

      „Ich bin bei Onkel Klaus und Tante Emma. Wenn was ist, erreichst du mich da“, offensichtlich merkte sie selbst, wie müde sie war und dass keine weiteren Diskussionen mit ihm möglich waren.

      „Geh schon mal zum Wagen. Ich komme gleich nach“, sagte Ben, während er Maria aus dem Zimmer hinausbegleitete.

      Einen Augenblick später kam er mit einem breiten Grinsen wieder herein. „Da ist noch jemand, der dir gute Besserung wünschen will.“ Er deutete jemandem auf dem Flur herzukommen und trat dann bei Seite.

      Als er sie das letzte Mal gesehen hatte gesehen hatte, hatte sie sich mit verheulten Augen und verschmiertem Make-Up über ihn gebeugt. So im Sonnenlicht, mit ihren zum Zopf geflochtenen Haaren und einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, sah sie um einiges hübscher aus.

      „Hey“, sagte sie schüchtern und mit einem kaum hörbaren Zittern in der Stimme.

      „Hey“, antwortete Alex und rutschte in seinem Bett nach oben.

      „Ich sehe, ihr könnt gut mit Worten umgehen“, warf Ben in die Pause ein.

      Anna trat näher an das Bett und umarmte Alex, während sie hörbar ein Weinen unterdrückte.

      „Es tut mir so leid“, flüsterte sie, löste ihre Umarmung und begann mit der Rechten über seine Schläfe zu streicheln.

      „Muss es nicht, ich nehme nicht an, dass du den Abend so geplant hattest. Daher trifft dich keine Schuld“, versuchte er auf sie einzureden.

      „Das natürlich nicht, aber wenn ich nicht mit dir in dieses Restaurant gegangen wäre, wäre das alles nicht passiert.“

      „Und wenn ich dich nicht eingeladen hätte, wäre das auch nicht passiert.“ Er hielt es nicht für Klug die Umstände ihres Kennenlernens auch noch anzuführen. Es ging ihr sichtbar an die Nerven, und da war es nur gut, diese wohl schlimmste Woche ihres Lebens hinter sich zu lassen. So führte er fort, „Das kann man beliebig fortsetzen. Es ist passiert und wir haben es überstanden. Das zählt.“

      „Zum Glück hast du an deine Uhr gedacht“, kam es von Ben, der einen Stuhl geholt hatte und ihn Anna anbot.

      „Uhr?“, staunte Anna.

      „Die Uhr ist ein Geschenk von Ben. Sie beinhaltet einen Sender. Wenn ich den Alarm auslöse oder meine Vitalzeichen unregelmäßig werden, bekommt eine private Sicherheitsfirma ein Signal und schickt sofort Hilfe. Als ich erkannt habe, dass es sich um einen Raub handelt habe ich den Alarm ausgelöst“, erläuterte Alex.

      „Deswegen war der Sanitäter so schnell da“, folgerte Anna.

      „Ja, zu jedem Team gehören ein Ersthelfer und zwei... nennen wir sie mal Männer fürs Grobe. Und wegen seiner Transplantation war es mir lieber, wenn er eine von denen trägt“, gab Ben zu.

      „Transplantation?“, fragte Anna.

      „Oh, ich sehe, ihr habt euch noch viel zu erzählen. Deswegen werde ich mich hier wieder verabschieden. Und wo wir gerade bei Geschenken sind, hier habe ich noch was.“ Ben hielt eine Sporttasche hoch, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte und klopfte auf ein Seitenfach. „Da ist ein Tablet drin, damit du hier nicht noch an Langeweile eingehst.“ Er stellte die Tasche neben einen Schrank. „Der Rest ist das übliche, Wechselkleidung, Zahnbürste et cetera. Ich muss jetzt noch ein paar Telefonate führen und irgendwie scheinen die Pfleger hier nicht begeistert, wenn ich mit meinem Handy hier herumrenne. Morgen komm ich wieder vorbei. Dir gute Besserung und dir einen schönen Tag noch.“

      Anna blieb noch einige Stunden neben Alex' Bett sitzen. Dabei erzählte er ihr von seiner Transplantation, deren Grund und der Zeit danach. Er erzählte auch, dass er bei Ben wohnte und von diesem einige Selbstverteidigungstechniken gelernt hatte. Ebenjene Techniken, die Alex reflexartig bei dem Raubüberfall angewandt hatte.

      Techniken, die verschiedene Kampfsportarten verband, darunter Krav Maga, Ninjutzu, Escrima und – wenn sich Alex richtig erinnerte – Teile aus dem Ausbildungsprogramm der Armee eines Ostblockstaats. Alles Sportarten, von denen Anna noch nie etwas gehört hatte. Alex war dagegen bis zu seiner Herzerkrankung in erster Linie aktiver Handballer und Parcourläufer, gab dies jedoch nach der Transplantation schweren Herzens auf. Das ihm sein kurzer Ausflug ins Hapkido in Verbindung mit den Lektionen von Ben in der Gefahrensituation so zu Gute kam, überraschte ihn am meisten.

      Im Gegenzug erzählte Anna ihm von ihrer Zwillingsschwester Lena, die begeisterte Schwimmerin war und gerade für die Olympiateilnahme trainierte. Dass sie lieber über ihre Schwester als über sich sprach, sagte ihm mehr sie glaubte. Sie verabschiedete sich schließlich mit dem Versprechen am nächsten Tage wieder zu kommen, als ein Chef-Arzt für eine Nachmittagsvisite den Raum betrat.

      Gegen Abend traf Wolk ein und holte ihn zu seinen ersten Tests ab, die aus einer Kernspintomografie, einer Blutabnahme und einer Spiroergometrie, also der Messung von Herz, Kreislauf, Atmung und Stoffwechsel bei körperlicher Belastung, wie in diesem Fall auf einem Laufband.

      Ergebnisse wollte Wolk erst am Ende aller Tests mitteilen. Den Rest der Nacht nutzte er lieber, indem er Alex die Geschichte der Metamenschen, die sich selbst als Yonin bezeichneten, und der Zentrale näherbrachte. Auf seine Nachfrage erhielt Alex die Antwort, dass der Begriff „Yonin“ aus dem Japanischen komme und in etwa „andere Menschen“ bedeutet.

      So ließen sich die Yonin grob in drei Arten unterteilten: Vampire, Werwölfe und paranormal Begabte. Die Gesamtheit aller Yonin wurde im offiziellen Bürokratenslang als metamenschliche Gesellschaft bezeichnet, eine Subgesellschaft unter der Oberfläche der normalen menschlichen Gesellschaft. Innerhalb dieser hatten sich große Gruppen zu Clans zusammengeschlossen. Außerdem erfuhr Alex, dass bei den fünf existierenden vampirischen Clans die Hierarchie durch die Form der Erschaffung vorgegeben war. Jeder Vampir war der Person unterstellt, die ihn geschaffen hatte. Aufsteigen konnte man nur durch den Tod eines höheren Vampirs oder wenn man sich durch besondere Verdienste


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