Lazarus. Christian Otte
Vampire waren etwa 1000 Jahre alt. In den Wirren der Geschichte waren alle Beweise, dass die Persönlichkeiten, auf die man sich berief, je existierten, geschweige denn etwas mit der Gründung des Clans zu tun hatten, verloren gegangen. Bei den Söhnen Kains, den Kindern von Tlazolteotl, der Lilith-Schwesternschaft und den Söhnen des Pollux war dies der Fall. Einzige Ausnahme bildete die Chlodomeraner, die sich auf den angeblich im Burgunderkrieg im Jahre 524 gefallenen Chlodomer, einen Sohn Chlodwigs I., selbst scheinbar Sohn eines heidnischen Gottes und aus dem Geschlecht der Merowinger, stützte. Chlodomer überlebte die Schlacht jedoch und gründete seinen eigenen Clan, dem er bis ins 12. Jahrhundert selbst vorsaß.
Am folgenden Morgen erhielt Alex wie angekündigt Besuch von seiner Mutter. Maria war wohl in erster Linie besorgt, dass ihr Junge nicht genug zu Essen und saubere Kleidung hatte. „Junge, du bist so blass“, hatte sie gesagt und am liebsten hätte er „Kunststück, ich habe 6 Liter Blut verloren.“ gesagt. Er beschränkte sich jedoch auf ein einfaches „Ja, möglich.“ und versuchte sie weiter zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass es nicht notwendig war eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung einzurichten.
Gegen Mittag traf Ben ein und berichtete, dass er sich mit ein paar Leuten in Verbindung gesetzt habe. Der Tenor dieser Gespräche war, dass dieses Semester nachträglich als Urlaubssemester betrachtet werden würde (auch wenn es sein erstes war), auf diese Weise konnte er in Ruhe wieder fit werden und wenn möglich einige Vorlesungen besuchen um die Zeit im nächsten Semester wieder aufzuholen. Alex war ihm dankbar dafür, hatte er doch selbst nicht mehr daran gedacht, dass er sich für einen Kurs angemeldet hatte, zu dessen bestehen eine Prüfung notwendig war, die er schon rein zeitlich nicht mehr schaffen konnte, da er zu dem Zeitpunkt voraussichtlich noch im Krankenhaus liegen würde. Zum Glück vergaß Ben nie etwas.
Nachmittags tauchte Anna auf und bot, nachdem er von Bens Einsatz erzählt hatte, an, ihm beim Lernen für die Fächer zu helfen, die sie beide hatten. Obwohl er es zu verhindern versucht hatte, kam das Gespräch irgendwann wieder auf den Raubüberfall und Alex stellte erleichtert fest, dass in ihrer Erinnerung fast alles verblasst war. Nur der Augenblick, da er die Räuber angegriffen hatte und dass er in einem Krankenwagen abtransportiert wurde war geblieben. In ihrem Kopf hatten sich die Fakten zu einer neuen Story arrangiert. Für sie war er mit einem Messer verletzt worden, als er versuchte einen der Räuber zu entwaffnen. Er hielt es für besser, dies nicht zu korrigieren. Das Erlebnis, wie sie es wahrnahm, wahr auch so traumatisch genug, da musste er nicht unbedingt noch darauf bestehen, recht zu behalten.
Nachdem er einige Stunden geschlafen hatte, brachte Wolk ihn zum nächsten Test in einen weißen Raum, in dem eine Batterie von Scheinwerfern auf ihn gerichtet war. Wolk drehte bei jedem der zehn Durchläufe das Licht etwas heller um danach ein Bild von Alex' Haut unter dem Mikroskop zu machen. Als nächstes folgten ein Hör- und ein Sehtest. Bei letzterem musste er in einem immer dunkler werdenden Raum Zahlenreihen erkennen. Als der Raum für ihn zu dunkel war um die Zahlen zu lesen, sah er sich im Raum um und konnte Wolk in seinem Kittel erkennen. Er hatte schon eine Ahnung, was dies zu bedeuten hatte, wollte aber nichts sagen, bevor er sich sicher war. Statt weiterer Tests folgte in dieser Nacht eine weitere Lektion zur Geschichte der Yonin.
Neben den Vampirclans gab es noch fünf lykantrophe, also Werwolf-Clans, benannt nach Romulus, Fenrir, Skalli, Hati und Managarm. Bis auf den ersten allesamt Wölfe der nordischen Mythologie. Da Lykantrophen meist in kleinen Rudeln unterwegs waren, hatten sich diese erst zur Zeit des dreißigjährigen Krieges zu großen Clans zusammengefunden und daher keine so lange Geschichte wie die Vampirclans. Der Name Lykantoph leitet sich von der Geschichte des Königs Lykaon ab, der zur Strafe, dass er den Göttern Menschenfleisch zum Essen angeboten hatte, in einen Wolf verwandelt wurde. Soweit zumindest die Geschichten. Ob die Werwölfe wirklich mit diesem König in Verbindung standen, konnte bisher jedoch nicht belegt werden. Und die Lykantrophen legten auch keinen gesteigerten Wert darauf, diese nachzuweisen.
Da sie, im Gegensatz zu den Vampiren, einem – wenn auch verlangsamten – Alterungsprozess unterlagen, war ihre Struktur anders aufgebaut. Werwölfe sind ein sehr aggressives Volk und so verwundert es nicht, dass jeder Werwolf das Recht hat, einen anderen innerhalb des Clans herauszufordern um dessen Position einzunehmen. Glücklicherweise waren sie aber dennoch mittlerweile zivilisiert genug um sich bei diesen Kämpfen nicht mehr gegenseitig zu töten. Die Tatsache, dass es weltweit nicht einmal mehr eintausend gibt, könnte zu diesem Sinneswandel erheblich beigetragen haben. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung geben Werwölfe ihre Gabe – so Wolks Worte – nicht durch einen Biss weiter. Berichte über Gebissene, die danach für Werwölfe gehalten wurden, ließen sich durch Tollwut oder die sogenannte klinische Lykantropie erklären. Bei letzterer hält sich der betroffene aufgrund von Drogen oder einer Psychose für einen Werwolf. Echte Lykanthropie ist nur vererbbar. Neben den Clans gab es noch gut ein Dutzend kleinerer freier Rudel, die sich nicht den Clans anschließen wollten. Das war aber auch kein Problem, solange sie sich friedlich verhielten und die von den Clans festgelegten Regeln einhielten.
Die folgenden Tage liefen nach demselben Schema ab: morgens bekam er Besuch von seiner Mutter, nachmittags von Anna. Nachts führte Wolk verschiedene Test mit ihm durch, darunter Fitnesstests, Reaktionstest, mehrere Blutabnahmen und verschiedene bildgebende Verfahren. Er konnte nur erahnen, was diese Tests ergeben sollten, ließ sich aber gern auf eine spätere Analyse vertrösten, da ihn die metamenschliche Gesellschaft zu interessieren begann. Antworten, gegen Antworten. Ein guter Deal.
So erzählte ihm Wolk von den drei Gruppierungen, deren Mitglieder weder Vampire noch Werwölfe waren: Dem Heron-Orden, den Theurgen und den acht Unsterblichen. Letztere waren weder acht, noch gänzlich unsterblich. Der Name ließ sich auf die Acht Unsterblichen der Chinesischen Mythologie zurückführen, allesamt mächtige Zauberer, die – den Geschichten zur Folge – im ersten Jahrtausend lebten. Ebenso wie die Theurgen, deren Name Gotteswirker bedeutet, zeichnet sich diese Gruppe durch Fähigkeit aus, die weit über das menschliche Verständnis hinausreichten. Von mächtigen Heilern über Gestaltwandler bis hin zu vermeintlichen Halbgöttern war alles vertreten.
„Willst du mir erzählen, Zauberer und Hexen gibt es auch?“, fragte Alex, wieder einmal erstaunt über die neuen Grenzen seines Realitätsbegriffs.
„Magie ist nur Technik, die man noch nicht kennt. Vor fünfhundert Jahren wärst du als Hexer verfolgt worden, weil deine Kutsche ohne Pferde fährt. Vor hundert Jahren wärst du für verrückt erklärt worden, wenn du überall in eine kleine Kiste in deiner Hand sprichst. Vor fünfundzwanzig Jahren hätte kaum niemand erwartet, dass man heute mit einer Fingerbewegung alles über jeden Menschen herausfinden kann. Magie ist nur ein Wort, für etwas, dass die Menschen noch nicht begreifen können“, erklärte Wolk.
In der Nacht darauf kam Wolk auf die Zentrale zu sprechen. Diese hatte sich erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts entwickelt. Vorher gab es zwar immer wieder Versuche sich zusammenzutun, doch erst die einsetzende Aufklärung machte die Bedrohung für die Yonin durch die Menschen, zwischen denen sie sich bis dahin unbehelligt bewegen konnten, deutlich. Es war der Heron-Orden, ein rein menschlicher Orden von genialen Erfindern, Wissenschaftlern, Philosophen und Vordenkern, dem es gelang, die unterschiedlichen Interessengruppen zu vereinen. Der Großmeister des Ordens schlug ein Bündnis aller Yonin vor, dass er „Die Bruderschaft der Nacht“ nannte. Alle Clans dieses Bündnisses sollten von einer zentralen Anlaufstelle überwacht werden und diese im Gegenzug durch ihre entsandten Abgeordneten überwachen. Auf diese Weise sollten Unstimmigkeiten zwischen rivalisierenden Clans durch alle Clans gemeinsam beseitigt werden. Außerdem konnte man Probleme durch die Zusammenlegung aller Ressourcen besser lösen. Das Vorhaben scheiterte zwar nicht, doch statt alle Yonin unter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen, erklärten einige kleinere Familie, Rudel, lose zusammengewürfelte Gruppierungen und Einzelpersonen sich von den Clans als unabhängig. Dem Frieden zuliebe erkannten sie jedoch die Bruderschaft als Instanz an und unterwarfen sich den Gesetzen, die jene für alle Yonin verbindlich aufstellte. Nun ging es daran ein zentrales Organ zu schaffen. So wurde zunächst beschlossen einen Rat aus 13 Teilnehmern – je einer aus jedem Clan – zu bilden. Man wählte je einen Teilnehmer im Rang eines Meisters, was nach den Großmeistern, Patriarchen oder Matriarchinnen der zweiten Hierarchiestufe entsprach. Da es bei solch großen Vereinigungen immer wieder Gründe gab den Rat der 13 Meister einzuholen, wurden den Meistern