Waldesruh. Christoph Wagner
er einen Fahrschein, wartete zitternd vor Kälte, trat von einem Fuß auf den anderen. Doch als der Bus kam, konnte er sich nicht von der Stelle rühren. Die Menschen drängten an ihm vorbei in den Bus, und als der abgefahren war, stand er allein an der Haltestelle. Die Angst vor Waldesruh war zu groß.
Er spürte die Kälte nicht mehr und setzte sich ins Wartehäuschen. Den Fahrschein hatte er weggeworfen. Irgendwie vermisste er den geregelten Gefängnisalltag. Da hatte er wenigstens nie darüber nachdenken müssen, was er tun sollte.
Was wollte er eigentlich noch? Wollte er überhaupt noch etwas? War es nicht völlig egal, wohin er jetzt ging? Oder ob er einfach sitzenblieb? Nichts mehr tun. Erfrieren tut nicht weh. Man schläft einfach nur ein.
Doch da spürte er seinen Hass. Der riss ihn aus dieser Lethargie. Er konnte doch nicht zulassen, dass die, die ihm sein Leben kaputtgemacht hatten, einfach in Ruhe weitermachen konnten, als ob nie etwas passiert wäre. Die mussten dafür büßen und er musste seine Unschuld unbedingt beweisen.
Er wollte also doch noch etwas.
Gerechtigkeit.
Und Rache.
Dafür lohnte es sich noch zu leben.
Langsam überquerte er wieder die Sophienstraße, setzte sich in der Darmstädter Hofpassage in ein Bistro und trank einen doppelten Espresso.
Dann suchte er einen öffentlichen Fernsprecher, um endlich seinen Vater anzurufen.
Der war ungehalten. Warum hatte er sich nicht schon viel früher gemeldet? Er hatte ihm extra sein Lieblingsessen gekocht. Irgendwie verstand er Wolfgang nicht. Er konnte sich doch eh nicht vor den Nachbarn verstecken.
Wolfgang merkte, dass seinem Vater das Sprechen schwerfiel. Er hatte in der Nacht wieder eine Herzattacke gehabt. Wie so oft schon. Der Arzt sagte, organisch sei da nichts. Einfach die Nerven.
Wolfgang versuchte, das Gespräch mit dem Vater so schnell wie möglich zu beenden. Er merkte, dass er jetzt keiner längeren Auseinandersetzung gewachsen war.
Langsam ging er dann wieder in die Hauptstraße hinein, Richtung Karlstor, und seine Gedanken sprangen einmal mehr in die ausgefahrenen Gleise. Berit konnte ihrem Mörder nicht zufällig begegnet sein. Der musste von Anfang an geplant haben, ihm die Sache in die Schuhe zu schieben, anders machte der Autodiebstahl keinen Sinn. Aber …
Schluss jetzt, unterbrach er sich. So kommst du nicht weiter. Du musst beweisen, dass diese Schittenhelms gelogen haben. Aber selbst wenn du das schaffst: Wer wird dir glauben in diesem Scheißkaff?
Der Vater hatte ihm erzählt, er habe mit einem Kriminalisten Kontakt aufgenommen, dem man vertrauen könne.
Wolfgang bezweifelte das. Die Polizei war doch einfach nur eine Scheißbande, die ihre Ruhe haben wollte. Möglichst nicht zu viel arbeiten. Oder auch Geld kassieren für angenehme Ermittlungsergebnisse. Die steckten damals doch alle unter einer Decke. Die wollten, dass er es war. Die hatten keine Lust, genauer zu ermitteln.
Hunderte Male hatte er das schon gedacht, sich immer im Kreis gedreht.
Bei der NORDSEE kaufte er ein Fischbrötchen, mehr aus Langeweile, als dass er wirklich Hunger oder gar Appetit verspürte. Etwas weiter hinten ging er zu Doctor Flotte*, um noch mal einen Kaffee zu trinken und sich wieder etwas aufzuwärmen. Vielleicht hatte die Kälte aber auch etwas Gutes. Wenn er jetzt eine Lungenentzündung bekäme, dachte er, bräuchte er wenigstens nicht auf die Straße raus und die Leute würden ihn nicht sehen.
Die Zeit verging elend langsam. Irgendwann zwang er sich doch, über seine Zukunft nachzudenken, um seinem Gedankenkarussell zu entkommen.
In der JVA hatte er eine Schreinerlehre gemacht. Eigentlich hatte er einmal Arzt werden wollen. Aber damit war es jetzt wohl auch vorbei. Wer würde ihm noch ein Studium finanzieren? Bafög – für einen vorbestraften Schwerverbrecher? Gab es das?
Sie hatten ihm ein paar Adressen gegeben von Schreinereien in der Nähe. Die würden auch ehemalige Strafgefangene nehmen. Vielleicht einfache Strafgefangene, aber sicher keinen Frauenmörder. Es war doch alles einfach aussichtslos. Er musste seine Unschuld beweisen. Sonst blieb ihm nur der Strick.
Er kam an die Heiliggeistkirche*. Sie war offen. Drinnen war es einigermaßen warm. Er setzte sich in die letzte Reihe und sah hinauf in das Deckengewölbe. Der Raum beruhigte ihn. Der Altar war hell erleuchtet, flankiert von zwei großen Weihnachtsbäumen. Ihm kamen Erinnerungen an die Zeit, als noch alles gut war. Als Kind war er gerne in die Kirche gegangen. Die hatten dort schöne Geschichten erzählt. Und er hörte gerne der Orgel zu, obwohl er bei den Chorälen nicht mitsingen konnte. Er sei unmusikalisch, hatte zumindest sein Musiklehrer gesagt. Aber es war schön, wenn alle zusammen sangen. Noch mehr gefiel ihm das Sprechen. Ihm kam das Vaterunser in den Sinn. Er faltete die Hände und begann: „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt … Bullshit! Es gibt keinen Gott, und schon gar keinen Vater im Himmel. Und wenn doch, dann ist er schlimmer als alle Väter hier auf der Erde. Ein gewissenloser Zyniker und Sadist!“
Wenigstens hatte es aufgehört zu schneien, als er aus der Kirche trat. Es war jetzt kurz nach vier. Langsam ging er weiter zum Karlstor, vorbei am Kornmarkt* und am Karlsplatz*, wo immer noch viele Menschen unterwegs waren, die fasziniert nach oben zum schon rötlich angestrahlten Schloss sahen. Ihn interessierte das jetzt gar nicht.
Als er zum Karlstor kam, sah er einen Bus wegfahren. Es war ausgerechnet der nach Heiligkreuzsteinach. Er musste jetzt eine halbe Stunde in der Kälte stehen und auf den nächsten warten.
Im Bus gab es dann keinen Sitzplatz mehr. Die Fahrgäste standen dicht gedrängt. Die rochen anders, als er es aus der JVA gewohnt war, aber auch unangenehm. Warum konnte er nicht allein sein? Warum musste sein Vater ausgerechnet heute krank werden?
Er hörte verschiedene Gesprächsfetzen. Zwei Frauen tauschten sich über ihre Erlebnisse beim Einkaufen aus. Es sei so schwer, etwas Vernünftiges zum Anziehen zu finden, wenn man schon etwas älter sei und nicht mehr dem jugendlichen Schlankheitsideal entspreche.
Haben die Sorgen!
Irgendwo wurde über Politik gesprochen. Vom Krieg in der Ukraine. Diesen Putin müssten sie doch endlich in die Schranken weisen, diese unfähigen Politiker. Das würde aber Krieg bedeuten. Wenn schon. Den Kalten Krieg hätten die Russen schließlich auch verloren.
Wolfgang Maurischat hatte keine Ahnung, was in der letzten Zeit draußen vorgegangen war. Nach etwa drei Jahren JVA hatte er jedes Interesse an der Außenwelt verloren, keine Nachrichten mehr gesehen und keine Zeitung gelesen.
Aber Krieg, das machte ihn jetzt doch unruhig.
In Neckarsteinach* wurde endlich ein Sitzplatz frei. Er war froh, nicht mehr die anderen Menschen ansehen zu müssen.
Plötzlich hatte er Berits Gesicht vor Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, aus einem Alptraum zu erwachen. Er war dankbar für diesen Sekundenbruchteil.
Er roch Veilchenduft. Der kam von der jungen Frau, neben die er sich gesetzt hatte. Sie war so in Mantel, Schal und Mütze eingemummelt, dass man ihr Gesicht kaum sehen konnte.
Veilchen waren Berits Lieblingsblumen gewesen. Vor allem wegen ihres Dufts. Nie war sie außer Haus gegangen, ohne ihr Veilchenparfüm aufgetragen zu haben. Es hatte so gut zu ihr gepasst.
Berit.
Was war damals wirklich geschehen? Sie hatten nie ihre Leiche gefunden. War sie überhaupt tot? Vielleicht saß sie ja in ihrer Wohnung und wartete auf ihn.
Hör mit diesem Unfug auf! Red dir keine Hoffnung ein! Berit ist tot. Irgendein Schwein hat sie umgebracht. Und du hast für den im Knast gesessen. Die Welt ist nun mal ungerecht. Dumm gelaufen.
Wenn ich den finde, erwürge ich ihn mit diesen meinen eigenen Händen. Danach sollen sie mir ruhig lebenslänglich geben. Das ist mir dann scheißegal.
…
In Heiligkreuzsteinach stieg er aus. Waldesruh hatte keine eigene Bushaltestelle. Das war noch genauso wie früher.
Etwa einen