Waldesruh. Christoph Wagner

Waldesruh - Christoph Wagner


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eine ganze Flasche Schnaps ausgetrunken und war schließlich auf der Wohnzimmercouch eingeschlafen. Plötzlich stand dann seine Frau vor ihm und erklärte, sie würde ihn für immer verlassen. Dann brach seine Erinnerung ab. Später fand er sich am Boden sitzend mit einem blutigen Küchenmesser in der Hand neben seiner blutüberströmten, toten Frau. Er brauchte eine Weile, um zu realisieren, was er getan hatte, und rief dann die Polizei.

      Um sich dem Motiv für diese grauenhafte Tat zu nähern, ließ sich Travniczek Kärchers Lebensgeschichte erzählen. Es war eine deprimierende Biographie. Der Mann berichtete von einem ständig betrunkenen Vater, der ihn und seine Mutter immer wieder geschlagen hatte, von den Kämpfen seiner Mutter, sich und ihn aus dieser Situation zu befreien; davon, dass er später immer wieder die kleine Wohnung verlassen musste, weil die Mutter fremde Männer empfing und er erst sehr viel später begriff, dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdiente; von den Qualen seiner Schulzeit, in der er als Loser und typisches Opfer behandelt wurde; und so ging es weiter.

      Irgendwann klopfte es an der Tür und Melissa Siebert sah herein.

      „Entschuldigung, Chef, ich hab da einen Mann am Telefon, der will unbedingt mit Ihnen sprechen. Es klingt sehr dringend. Er scheint mir vollkommen durcheinander.“

      Etwas verärgert fragte Travniczek: „Wie heißt er?“

      „Ich hab den Namen nicht genau verstanden: Mauwisch … oder so ähnlich.“

      „Maurischat?“

      „Ja, kann sein.“

      „Mist! Was ist da jetzt passiert? Ich komme.“

      Erregt meldete er sich: „Travniczek hier. Mit wem spreche ich?“

      „Wolfgang, Wolfgang Maurischat, Sie wissen, wer ich bin?“

      Ehe Travniczek antworten konnte, redete er weiter. Die Stimme klang hektisch und zerfahren und war kaum zu verstehen.

      „Mein Vater! … Überall ist Blut! … Wenn er tot ist! Ich kann nicht mehr!“

      „Ihr Vater ist verletzt? Haben Sie schon den Notarzt gerufen?“

      „Notarzt … Notarzt … ich weiß ja nicht, wie … ich weiß … weiß ja gar nichts mehr … was soll ich denn …“, schrie Wolfgang Maurischat panisch.

      Travniczek merkte, wie sich diese Panik auf ihn übertrug. Warum verlor er eigentlich die professionelle Distanz, fragte er sich. Er musste seine ganze Konzentration aufbringen, um ruhig und betont deutlich weiterzusprechen: „Herr Maurischat, Sie rufen jetzt sofort die 112 an. Dort bekommen Sie den Notarzt. Haben Sie mich verstanden? Die 112! Das ist jetzt das Wichtigste. Wie hat sich Ihr Vater verletzt?“

      „Die Fensterscheibe … überall liegen Scherben … und ein großer Stein ... er blutet fürchterlich aus dem Kopf … er verblutet noch … Ich weiß überhaupt nicht …“

      „Also ein Mordanschlag! Dann noch mal: Sie rufen jetzt erst die 112 an und sagen unbedingt, es besteht akute Lebensgefahr. Sie bleiben aber auf jeden Fall, wo Sie sind. Haben Sie verstanden? Sie fassen möglichst nichts an, es sei denn, es geht um die Hilfe für Ihren Vater. Ich schicke Ihnen umgehend eine Polizeistreife vorbei und versuche selbst, so schnell wie möglich bei Ihnen zu sein. Herr Maurischat, Sie haben mich verstanden?“

      „Ja, ja, … sicher.“

      „Gut. Aber nicht vergessen: Sofort die 112 anrufen!“

      Travniczek legte auf.

      „Was sind das denn für Idioten in diesem Kaff?“, schimpfte er so laut, dass Melissa Siebert erschrocken von ihrem Schreibtisch aufsprang. „Wenn sie den Jungen nicht haben wollen, kann ich das ja irgendwie nachvollziehen. Aber warum wollen sie dann den Alten umbringen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!“

      Er rief den Streifendienst an, dass sofort jemand bei Maurischats vorbeifahren sollte, es ginge um einen Mordanschlag, habe also allerhöchste Priorität. Dann suchte er verzweifelt nach seinem Mantel.

      „Den haben Sie doch erst im Verhörraum ausgezogen“, half ihm Melissa Siebert. Dorthin musste er ohnehin noch einmal, um Brombach zu sagen, er sollte die laufende Vernehmung alleine weiterführen und dann nach Waldesruh nachkommen.

      Ausgerechnet jetzt hatte es wieder heftig zu schneien begonnen. Die Fahrt nach Waldesruh hinauf konnte schwierig werden und er wollte auf keinen Fall riskieren, irgendwo steckenzubleiben. Er rief die Kollegen von der Verkehrspolizei an. Der Pass über den Langen Kirschbaum* sei wegen Schneebruchgefahr gesperrt, hieß es. Die Routen über Schriesheim oder Neckarsteinach seien im Moment noch frei. Wie lange noch, sei fraglich.

      „Welcher Idiot glaubt, hier noch mit Sommerreifen hochfahren zu können?“, schimpfte er lautstark. Trotz Blaulicht und Martinshorn machten nur wenige Fahrer vor ihm Anstalten, an die Seite zu fahren, wohl aus Angst, dann selbst festzusitzen. Einige musste er fast touchieren, bevor sie ihm Platz machten.

      Als er dann endlich den Kleinlaster erreicht hatte, sprang er aus seinem Wagen und schnauzte den Fahrer rüde an. Doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

      „Ich hab doch schon einen Abschleppdienst angerufen“, erklärte er achselzuckend. „Die müssen aber erst noch andere Aufträge abarbeiten. Das kann Stunden dauern.“

      Travniczek rief zunächst Wolfgang Maurischat an. Der schien sich etwas beruhigt zu haben, denn der Notarzt hatte inzwischen Entwarnung gegeben. Die Platzwunde, die sein Vater am Kopf hatte, sah schlimmer aus, als sie war. Sie blutete zwar sehr stark, war aber mit Sicherheit keine wirklich schwere oder gar lebensbedrohliche Verletzung. Der Arzt war gerade dabei, den Vater zu versorgen und wollte ihn dann in die Klinik bringen lassen. Eine Polizeistreife war aber noch nicht da.

      „Warum kommen diese Nachtkappen nicht bei?“, fluchte Travniczek und rief im Präsidium an. Die Streife säße irgendwo zwischen Neckarsteinach* und Schönau* fest, hieß es.

      Er trommelte einen wilden Rhythmus auf das Lenkrad. Er konnte hier doch nicht stundenlang warten. Da kam ihm eine Idee. Er sprang aus dem Wagen, klopfte beim ersten wartenden Auto an die Seitenscheibe und zückte seinen Dienstausweis. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und sah ihn missmutig an.

      „Kommen Sie bitte raus und helfen Sie mir, diesen Laster etwas zur Seite zu schieben. Ich muss zu einem dringenden Einsatz.“

      Der Fahrer sah ihn mit offenem Mund so entgeistert an, als habe er ihm gerade einen unsittlichen Antrag gemacht. Er wollte verärgert protestieren, aber Travniczek kam ihm zuvor: „Regen Sie sich nicht auf. Sie wollen doch auch nach Hause. Bis hier ein Abschleppwagen durchkommt, ist es Nacht. Wir müssen noch ein paar starke Männer mehr rekrutieren, dann schieben wir diese Karre in den Straßengraben und der Durchgang ist frei.“

      Travniczek hatte den richtigen Ton getroffen und ihn bei seiner Mannesehre gepackt. Voller Tatendrang stieg der Fahrer aus und lief eilig von Wagen zu Wagen. Nach kurzer Zeit standen etwa fünfzehn mehr oder weniger starke Männer um den Kleinlaster. Doch der LKW-Fahrer stellte sich schützend vor sein Fahrzeug und zeterte fürchterlich: „Das können Sie nicht machen! Ich hab wertvolle Unterhaltungselektronik geladen. Wenn die beschädigt wird, verlier ich meinen Job.“

      „Wären Sie hier nicht mit Sommerreifen hochgefahren, hätten wir das ganze Theater doch nicht“, kanzelte Travniczek ihn ab. „Sie wissen, das ist grobe Fahrlässigkeit und nach der Straßenverkehrsordnung verboten. Da können Sie sich jetzt nicht beschweren.“

      Die Aktion erwies sich indessen als schwierig. Der LKW ließ sich immer nur zentimeterweise bewegen. Travniczek wollte schon abbrechen. Doch für die Männer war es jetzt Ehrensache. Und nach mehr als einer halben Stunde schweißtreibender Arbeit kam der LKW


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