Begnadet - Buch 1-2. Sophie Lang
für Sie noch ein anderes Talent überlegt. Eines, das Sie allen erzählen können. Denn wir machen in der Regel keine Geheimnisse aus unseren Begabungen und spätestens nach dem Einweihungsritual werden Sie danach gefragt werden und Sie werden entscheiden, was Sie preisgeben wollen und was Sie für sich behalten.«
Ich muss unwillkürlich an Kyala denken. Sie verschweigt uns allen etwas. Ist das vielleicht der Grund, warum Sie bisher eine Einzelgängerin war?
»Entschuldigen Sie bitte, aber was ist mein Talent?«
»Sie spüren es, wenn Sie angelogen werden.«
Ich nicke. Bin unsicher, was ich mit dieser Information anfangen soll.
»Und welche weitere Begabung haben Sie sich für mich ausgedacht?«
»Na ja, ich bin mir nicht sicher, ob es Ihnen gefallen wird. Ich würde es Verführen nennen.«
»Bitte was?«
»Sie können Ihre Mitmenschen im Handumdrehen um den Finger wickeln und bei den Männern das unwiderstehliche Gefühl entflammen, dass Sie das einzige Objekt ihrer Begierde sind.«
»Sie machen Witze. Ich bin das genaue Gegenteil.«
»Sehen Sie mich lachen?«
Ich sehe ihn an und kann nicht fassen, was er sich für mich ausgedacht hat. Ich? Die nie einen Freund hatte, bevor Levi mich aufgegabelt hat. Ich, die Außenseiterin. Die lieber allein sein will und ohne Menschen besser zurechtkommt. Das ist wirklich ein Witz.
Dann spricht er weiter: »Aeia, ich denke Sie stecken noch voller Geheimnisse und werden uns alle noch mit Ihren Fähigkeiten überraschen. Sie hatten eine schreckliche Kindheit. Haben unaussprechliches Leid ertragen müssen.«
Ich schlucke. Er weiß über mich Bescheid.
»Aber das wird sich ändern. Sie sind jetzt unter Ihresgleichen.«
Ich denke unwillkürlich an den vergangen Morgen. An Lu, Alex, Kyala, Jarno und den jungen Mann hinter der Essensausgabe, der mich anschmachtete. Bin ich tatsächlich jemand, der schnell Freundschaften und Liebschaften knüpfen kann? Unter Meinesgleichen? Was meint er damit nur? Und dann sage ich: »Ich bin einverstanden.«
»Nichts anderes habe ich erwartet. Ihren Tagesablauf werden Sie wie folgt gestalten. Morgens machen Sie ihre Arbeit bei Herrn Meusburger. Mittags besuchen Sie das Lauftraining und andere Kurse, die Sie interessieren. Um drei Uhr nachmittags kommen Sie zu mir. Ich unterrichte Sie. Keine Angst, Frau Engel, ich unterrichte Sie in Sachen Forensik und Kriminalpsychologie. Zusammen werden wir den Mörder entlarven. Das ist Ihre erste Aufgabe und sie ist von höchster Priorität, Frau Engel. Sie werden zunächst Nachforschungen anstellen, auf Verdächtiges achten, Fakten sammeln und herausfinden, was den Täter antrieb.«
»Kann ich mir sicher sein, dass das wirklich kein Scherz ist?«
»Seien Sie ehrlich zu sich selbst. Blicken Sie in den Spiegel, in Ihre Vergangenheit, dann sehen Sie dort die Antwort.«
»Ich soll die sein, die keiner hinters Licht führen kann?«
»Das sind Sie, und ab sofort sind Sie meine Assistentin.«
Er blickt auf seine Armbanduhr. »So und jetzt wird es Zeit für Sie zu gehen. Das Lauftraining beginnt in einer halben Stunde.«
»Herr Palo?«
»Palo ist mein Vorname.«
»Uuups, Herr Davidi, darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
Er sieht mich an. Ist unschlüssig, wie er reagieren soll. Bin ich wirklich die, für die er mich hält, dann würde ich jeden Schwindel bemerken.
»Ich denke, dies fördert das gegenseitige Vertrauen. Sie dürfen mir eine Frage stellen.«
»Was ist Ihre Begabung?«
Er sieht mir in die Augen. »Frau Engel, ich habe mich noch nie geirrt.«
Ich stehe auf. Ich fühle nichts. Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Am liebsten würde ich ihn an den Lügendetektor anschließen. Aber bei dem verwirrenden Verhalten des Zeigers, würde mich das auch nicht weiterbringen.
Aeia - Sexy-Walk
Als nächstes trete ich meinen ersten Wahlkurs an.
Er ist gut besucht.
Ich geselle mich zu den jüngeren Frauen, und dann erfahren wir von der Kursleiterin, dass heute der Sexy-Walk gelaufen wird.
Keine der Anwesenden kichert mädchenhaft oder peinlich berührt. Alle nehmen die Sache ernst. Das finde ich gut. Ein Persönlichkeitstraining ist sinnvoll und nichts zum Herumalbern.
Anna, Sandra-Carina und Naomi heißen die jungen Kolleginnen, die sich zusammen mit mir in die Ecke zwängen.
»Ihr wollt wohl auch auf keinen Fall die Erste sein, die drankommt?«, spekuliert Sandra-Carina. Sie hat das Verhalten unserer Gruppe gut analysiert. Warum sonst sollten wir uns in der Ecke dieses Gymnastikraums verstecken.
»Um Himmels Willen, nein. Erst mal sehen, wie sich die anderen anstellen«, sagt Naomi, eine hübsche Brünette mit Stupsnase und Grübchen am Kinn.
Die Figur der anderen beiden entspricht nicht wirklich 90-60-90, aber es ist auch kein Talentwettbewerb für Supermodels, sondern eine Weiterbildung im sexy Gehen, was ich ziemlich interessant finde.
»Du bist neu oder?«, fragt Anna.
»Ja, es ist mein erster Tag.«
»Dann haben wir beide miteinander gechattet«, sagt Sandra-Carina plötzlich.
»Du warst das?«
»Ja klar. Cool, dass wir uns gleich persönlich über den Weg laufen.«
»Finde ich auch«, gestehe ich, bin aber nicht ganz so euphorisch wie Sandra-Carina.
Ich beobachtete die Erste, die sich über den schmalen Steg katzengleich bewegt. Ich schätze sie auf Mitte Dreißig. Sie macht das richtig gut und erhält auch direkt ein Lob und nicht allzu viele Korrekturvorschläge von unserer Kursleiterin, Anastasia.
»Natascha ist echt begabt«, meint Sandra-Carina.
»Was ist eigentlich deine Begabung?«, fragt sie mich direkt von der Seite. Die Nächste kommt dran.
»Ich kann Männer ganz gut um den Finger wickeln«, meine ich mutig. Die Warnung von Davidi, nichts über mein anderes, angeblich wahres Talent, zu verraten, habe ich erstmal befolgt.
»Dann bist du ja nicht nur zum Spaß hier«, sagt sie und kann ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Ich nicke, weil mir nichts Besseres einfällt.
»Und ihr? Welche Talente habt ihr?«, will ich wissen.
»Ich bin multilingual«, sagt Sandra-Carina.
»Sie spricht fließend 28 Sprachen. Regionale Dialekte nicht dazu gerechnet«, stöhnt Anna.
»26, übertreib nicht immer!«, sagt Sandra-Carina und stellt ihr tatsächliches Repertoire richtig.
»Das ist erstaunlich. Und du?«, frage ich Naomi, die eindeutig schüchtern oder vielleicht auch nur ruhig ist. Es fällt mir auf, dass ich mich auch unter diesen Menschen auf Anhieb wohlfühle.
»Ich bin ein Schlangenmensch, kann mich ziemlich gut verbiegen. Möchte das jetzt aber nicht demonstrieren.«
»Interessant. Und du?«, frage ich Anna.
»Ich hab´s nicht so mit elektronischen Geräten. Die fangen in meiner Nähe immer an zu spinnen. Computer spucken Fehlermeldungen aus, die noch nie jemand gesehen hat. Und dazu muss ich sie nur berühren. Drucker fallen aus. Handys bekommen keinen Empfang mehr und so weiter. Ich dachte eigentlich, ich sei verflucht und wäre nie im Leben darauf gekommen, dass das meine Begabung sein könnte.«
»Sie arbeitet in der Softwareentwicklung«,