Begnadet - Buch 1-2. Sophie Lang
herein und verleiht dem Dielenboden eine wunderschöne, goldbraune Farbe. Ausnahmsweise bin ich hier ganz allein. Ich sehe auf meine Uhr.
Noch 17 Minuten.
Bin ich die einzige Neue, die zum Talenttest muss?
Meine Muskeln an meinem Hintern kribbeln vor Aufregung und schließlich halte ich die Warterei nicht länger aus und fange an, wie eine Raubkatze den Gang rauf und runter zu laufen. Mir kommen schreckliche Gedanken. Fast alle drehen sich um mein mögliches Versagen, wie niedergeschlagen ich wäre, wenn ich kein Talent hätte.
Dann, nach endlosen Minuten des Wartens, in denen mich meine eigenen Ängste plagen, kommt eine Person die Treppe hoch.
Ich bleibe stehen und lausche den Schritten, die die Stufen aus Holz zum Quietschen bringen. Ein übergewichtiger Mann mit Ledersohlen, denke ich und behalte Recht. Das erste, was mir zu ihm einfällt, ist, dass er Al Capone ist.
Die Haare sind, von seiner breiten Stirn ausgehend, zurückgeklebt. Er trägt einen gebügelten schwarzen Anzug, Krawatte und schwarze Schuhe. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und sehe ihn an und mit jedem Schritt, mit dem er sich mir nähert, scheine ich ein Stückchen kleiner zu werden.
Der Mann ist sehr dick und er ist ein Riese.
Er bleibt nicht stehen, sondern sagt im Vorbeigehen: »Frau Engel? Aeia Engel?« Seine Stimme klingt heiser und kratzig. Er ist wahrhaftig Al Capone.
»Ja«, höre ich eine junge Frau antworten, die klingt wie ich.
»Folgen Sie mir!« Ich wäre nie im Leben auf den Gedanken gekommen, ihm zu widersprechen.
Wir betreten einen Raum, zu dem er uns, mit dem Fingerabdruck seines rechten Daumens, Zugang verschafft. Ich habe etwas anderes erwartet. Geräte, vielleicht mit Drähten und Saugnäpfen daran, die man auf der Kopfhaut oder Brust anschließen kann, um Talentwellen zu messen.
Oder irgendwelche Hightechscanner. Oder zumindest irgendetwas Elektronisches. Aber außer der Glühbirne an der Decke, kann ich nichts, was Strom benötigt, ausmachen.
Ich komme mir vor wie in einem Büro aus der Kolonialzeit. Natürlich bin ich selbst noch nie in einem gewesen, aber in meiner Vorstellung hätte, anstatt meiner, auch Christoph Kolumbus hier stehen können, um bei der spanischen Königin Isabella um die Überfahrt nach Indien zu ersuchen.
Es kommt der Zeitpunkt, an dem sich der Mann hinter seinem schweren Schreibtisch niederlässt und sich vorstellt. Ich stehe da, fühle mein Selbstvertrauen um mehr als ein Jahrzehnt zurückgeworfen, bin wie ein schüchternes Mädchen bei der Audienz beim Schulrektor.
»Ich bin Palo Davidi. Ich bin Teil des Vorstands des TREECSS-Instituts«, sagt er und während ich überlege, welcher sein Vor- und welcher sein Nachname ist, spricht er bereits weiter.
»Eine meiner wichtigsten Aufgaben ist es, neue Mitarbeiter, gestatten Sie mir den Ausdruck, neue Familienmitglieder, für das Institut zu gewinnen.«
Ich verstehe.
Er ist der Personalchef.
»Ich nehme an, Herr Meusburger hat Ihnen die gepflogenen Prinzipien und Regeln erläutert, deshalb lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Was glauben Sie, weshalb Sie hier sind?«
»Wegen der Talentshow«, purzeln die Worte über meine Lippen, bevor ich sie zurückhalten kann.
Eine Bombe aus Schweigen explodiert in seinem Büro.
Er sieht mich an.
Verzieht keine Miene. Das ist schlimm. Schlimmer als Wut, Empörung oder vielleicht habe ich auch auf ein Grinsen gehofft. Verflucht, ich strafe mich unsichtbare Ohrfeigen für meine Vorwitzigkeit.
»Tut mir leid. Das ist mir so herausgerutscht«, sage ich kläglich, weil ich die Stille nicht auszuhalten vermag.
»Frau Engel, gesetzt den Fall, ich wollte einen Clown einstellen, denken Sie, meine Wahl wäre dann auf Sie gefallen?«
»Äh?« Ich sehe ihn an und überlege.
»Nein, niemand lacht über meine Witze«, sage ich. Er sieht mich finster an. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Tut mir wirklich leid«, entschuldige ich mich bereits zum zweiten Mal.
»Nun, Sie haben die Chance, es wieder zu richten.«
»Meine Arbeit soll mir Spaß machen, nur dann kann ich Höchstleistungen vollbringen«, erkläre ich mich.
Für ein paar Herzschläge ist es wieder mucksmäuschenstill im Kolonialbüro. Ich bin drauf und dran, stolz darauf zu sein, wie mutig ich zu meiner Meinung stehe. Dann hoffe ich, dass er endlich in schallendes Gelächter ausbricht, mir auf die Schulter klopft und wir eine gute Basis zwischen Chef und Mitarbeiter haben könnten. Aber so kommt es nicht.
»Naturgemäß werden einige Aufgaben im Widerspruch zu dem Verständnis stehen, Spaß zu haben. Vergangene Nacht wurde einer Ihrer Kollegen bestialisch ermordet.«
Ich sauge laut die Luft ein. Werde zu meinem Erlebnis am Morgen zurückkatapultiert. Mich fröstelt es und jetzt bin ich es, die keine Miene verzieht und ganz still wird. »Glauben Sie vielleicht, es hat mir Spaß gemacht, ihn zu identifizieren? Denken Sie, es war für mich ein Vergnügen, mit seiner Frau zu sprechen? Ihr zu sagen, dass ihr Ehemann, der Vater ihrer Kinder, nicht mehr nach Hause kommt. Glauben Sie das, Frau Engel?«
Ich schlucke. »Nein«, sage ich leise. »Nein, das hat es gewiss nicht.«
Er spricht nach einer kurzen Atempause weiter.
»An was arbeiten Sie, Frau Engel?«
»Ich helfe mit, den Asklepiosstab zu finden. Wir analysieren geographische Muster und versuchen so, das nächste Ereignis vorherzusagen.«
»Ronan Meusburger macht einen guten Job. Enttäuschen Sie ihn nicht.«
»Ich werde mich bemühen«, sage ich ehrlich, auch wenn ich bereits ahne, dass Bemühen vermutlich nicht genug sein wird. Er überhört meinen Patzer.
»Haben Sie sich schon für einen Wahlkurs eingeschrieben?«
Ich sehe ihn an und nehme davon Notiz, wie groß meine Augen werden.
»Ähm, ich wollte ins -«, ich bringe den Satz nicht zu Ende. Traue mich nicht, so etwas Lächerliches, wie Lauftraining, in Erwägung zu ziehen. Nicht, wenn vor ein paar Stunden ein Kollege ermordet wurde.
»Frau Engel, was für einen Kurs wollten Sie besuchen, bevor Sie mich trafen?«
»Das Lauftraining«, sage ich dann, weil er mich dazu drängt und es schlicht und einfach den Prinzipien des Instituts entspricht, die Wahrheit zu sagen.
»Das ist doch wunderbar. Machen Sie das, es wird Ihnen ganz gewiss gefallen. Sie auf andere Gedanken bringen.«
»Sie werden bei uns ihr Psychologiestudium weiterführen.«
Das ist keine Frage, also halte ich meinen Mund.
»Die Vorlesung, die Sie besuchen werden, wird Kriminalpsychologie sein.«
Kriminalpsychologie? Ich habe zwar kein fotografisches Gedächtnis, aber ich bin mir sicher, ich habe das nicht auf der Liste gelesen. »Diese Vorlesung muss ich auf der Liste übersehen haben«, sage ich. »An wen wende ich mich für die Anmeldung?«
»Die Vorlesung steht auf keiner Liste. Es handelt sich um keinen offiziellen Kurs.«
Ich schaue ihn an. Warte.
»Frau Engel, Sie werden von mir persönlich unterrichtet.«
»Von Ihnen?«, frage ich und schnappe schon wieder nach Luft.
»Sie werden mich dabei unterstützen, den Mörder zu finden.«
»Ich?«
»Sie und Ihre Begabung, Frau Engel.«
»Mein Begabung?«, wiederhole ich seine Worte wie ein Papagei.
»Ich folge Ihren Spuren schon eine Ewigkeit. Wenn ich