Verlorenend. S. G. Felix
Jedes einzelne hatte eine bestimmte Funktion in der Art den Wind einzufangen, und jedes hatte einen speziellen Namen, von denen Antilius jedoch keinen einzigen kannte. Er hatte sich nie für die Seeschifffahrt interessiert, sondern nur für das, wonach die Kapitäne zur See navigierten, nämlich die Sterne.
Althane waren nicht nur einfach Passagierschiffe. Nein, es waren Kunstwerke. Jedes Althan war ein Unikat und wurde deshalb von der Besatzung mit Hingabe gepflegt.
Das riesige Baumschiff passierte langsamer werdend und praktisch geräuschlos den Leuchtturm der Bogenbucht. Hier befand sich der einzige Ankerplatz, der nahe genug zum Land der Fünften Inselwelt Truchten war, das Antilius zum ersten Mal in seinem Leben betreten würde.
»Ich glaube, so geht es besser«, sagte Antilius lächelnd, als er die Schutzkappe des Fernrohrs des kleinen behaarten Wesens entfernt hatte.
Der leicht erschrockene Sortaner nahm sein Fernrohr herunter und schaute Antilius konsterniert mit seinen dunkelblauen Augen an. »Was..., was erlauben Sie sich?«, schrie er unbeherrscht.
Antilius blieb ganz ruhig. »Nun, ich habe bemerkt, dass Sie Schwierigkeiten hatten, durch Ihr Fernrohr zu sehen. Das kleine Problem. Sie wissen schon.«
»Wollen Sie damit sagen, ich sei zu dumm, mein eigenes Fernrohr zu bedienen?«
»Ich ... ach, vergessen Sie es.« Antilius rollte mit den Augen und wandte sich von dem fremdartigen Geschöpf ab. Er konnte sich nicht erinnern, dass diese Spezies für ihr aufbrausendes Temperament bekannt war.
»Was?«, keifte der Sortaner weiter.
»Vergessen Sie es, und lassen Sie mich jetzt in Ruhe!«, rief Antilius zurück. Das war eigentlich nicht seine Art. Er war müde. Die Seereise war anstrengend gewesen, und letzte Nacht hatte er nach seinem Alptraum kaum schlafen können. Es war merkwürdig. Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er im Traum einen Schlag in den Rücken bekommen hatte und danach in ein tiefes Loch stürzte. Oder war es ein Abgrund? Als er aufwachte, schmerzte ihm der Rücken tatsächlich richtig. Auch jetzt fühlte er noch ein leichtes Drücken in der oberen Wirbelsäule. Es war fast so, als wäre der Traum beinahe real gewesen.
Der Sortaner schien überrascht über den Wutausbruch. Das kleine Wesen begann ihn ausführlich zu mustern.
»Sie müssen mein Verhalten entschuldigen. Ich bin heute wohl nur ein wenig gereizt. Die Reise war sehr anstrengend. Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Haif Haven, ich bin Händler. Sie können Haif zu mir sagen.«
Antilius war über den plötzlichen Sinneswandel überrascht. Er zögerte einen Moment, doch dann gab auch er sich versöhnlich. »Ich heiße Antilius. Womit handeln Sie, wenn ich fragen darf?«
»Vorwiegend mit wertvollen Informationen. Glauben Sie mir, damit kann man mehr verdienen, als wenn man mit materiellen Gütern handelt.«
»Verstehe.« Das war das Einzige, was Antilius als weitere Konversation einfiel. Er verspürte trotz des versöhnlichen Tons seines kleinen, pelzigen und beleibten Gegenübers nicht das Bedürfnis nach weiteren Gesprächen, denn irgendetwas an diesem Sortaner war irgendwie falsch, gleichwohl er keinen verschlagenen Eindruck bei ihm erweckte.
Truchten
Truchten war die größte der sieben Inselwelten Thalantias. Man sprach hier nicht von Kontinenten, sondern von Inselwelten. Das hatte vielleicht damit zu tun, dass Thalantia als eine verhältnismäßig kleine Welt zu über neunzig Prozent von Wasser bedeckt war, und dass die sieben bekannten Landflächen nicht groß genug waren, um als Kontinente bezeichnet zu werden.
Truchten war zum Großteil von Wäldern und weiten Graslandschaften geprägt. Es gab nur vereinzelt kleinere Siedlungen. Nur die Hauptstadt Fara-Tindu, im Zentrum dieser Inselwelt, stellte eine Ausnahme dar. Es war sozusagen das Handelszentrum von Thalantia. Hier lebten fast alle Völker dieser Welt miteinander, seien es nun Menschen, Sortaner oder zahlreiche andere Spezies, denen Antilius im Laufe seiner Reise noch begegnen würde.
Dieses Miteinander von verschiedenen Völkern und Kulturen stellte eine erfreuliche Ausnahme zum Rest Thalantias dar. Denn aus irgendeinem Grund war es üblich, dass jedes Volk und jede Glaubensgemeinschaft eher unter sich blieb und den Kontakt nach außen vermied.
Früher, vor sehr langer Zeit, da soll es einmal Königreiche auf Thalantia gegeben haben. Fünf an der Zahl sollen es gewesen sein. Wohlstand, technischer Fortschritt und ein gleichberechtigtes Miteinander, so erzählt man sich, waren die Grundpfeiler jener friedvollen Zeit. Aber das war schon sehr lange her, und niemand weiß heute genau, warum die Zeit der Könige mit einem Mal ein jähes Ende gefunden hatte. Von einem schrecklichen Krieg vor tausend Jahren war die Rede. Mit jenem Krieg verschwanden praktisch alle Spuren in die Vergangenheit. Spuren, die etwas darüber erzählen könnten, wie es damals gewesen war.
Dennoch verbarg die unscheinbare Welt Thalantia noch viele Geheimnisse und Mysterien aus jener Zeit, über die der eine oder andere zwangsläufig zufällig stolpern konnte. Es waren winzige Teile eines schier unendlich großen Puzzles, dessen Tragweite sich niemand auch nur im Entferntesten vorstellen konnte.
Das galt auch für Antilius. Eigentlich war er nach Truchten gereist, um etwas über sich selbst zu erfahren. Denn er wusste nicht, wer er war. Ja, er wusste nicht einmal, ob Antilius sein richtiger Name war. Er war vor nicht allzu langer Zeit unter mysteriösen Umständen aus einer Art Ohnmacht erwacht und hatte alles vergessen, das ihm etwas darüber verraten könnte, wer er war und wo er herkam. Und es gab bis heute niemanden, der ihn wiedererkannt hatte. Es war ihm manchmal so vorgekommen, als hätte er vor seinem Gedächtnisverlust nie existiert.
Hier auf Truchten schien es aber jemanden zu geben, der ihm etwas über sich erzählen konnte. Aber Antilius ahnte nicht, dass seine Ankunft auf der Fünften Inselwelt Ereignisse in Gang setzen würde, die über das Schicksal von Thalantia entscheiden sollten.
Nachdem das Gepäck ausgeladen worden war, verließen die ersten Passagiere über drei Lifte die Baumkrone des Althans und betraten den weit ins Wasser ragenden Kai des Fischerdorfes Itap-West.
»Ah! Endlich können wir an Land«, rief Haif erleichtert.
Er wirkte jetzt wesentlich entspannter. Und auch Antilius war froh, das für ihn fremde Land endlich betreten zu können.
Schließlich balancierten auch Antilius und Haif Haven nach kurzer Fahrstuhlfahrt über den schmalen Steg. Das Gepäck war bereits unten. Alles musste sehr schnell gehen, denn das Althan hatte einen strikten Fahrplan einzuhalten und würde in weniger als einer Mondstunde die Bogenbucht im Westen von Truchten wieder verlassen.
»Sagen Sie, wissen Sie zufällig von einem Sternenbeobachter, der hier auf dieser Inselwelt leben soll?«, fragte Antilius Haif zögerlich.
Der wirkte überrascht: »Sternenbeobachter? Nein, tut mir Leid. Keine Ahnung«, sagte er schnell. Sehr schnell.
Antilius wollte noch einmal nachhaken, bekam dazu jedoch keine Gelegenheit mehr, denn Haif schien sofort aufbrechen zu wollen.
»Auf Wiedersehen, Herr Antilius. Vielleicht kommen Sie mich ja mal besuchen. Ich wohne nur einige hundert Meter entfernt, südöstlich von hier an der Küste. Und vielen Dank noch einmal für Ihre Hilfe.«
»Ja, auf Wiedersehen!« Antilius schaute dem kleinen Fellbündel hinterher, das rasch davon watschelte. Haif schien es wirklich ziemlich eilig zu haben. Vielleicht wollte er ja noch ein lukratives Geschäft abwickeln, überlegte Antilius.
Er freute sich jetzt erst richtig auf seinen Aufenthalt auf der Fünften Inselwelt, obwohl er wusste, dass er nicht hier war, um Urlaub zu machen. Es würde vermutlich schwierig werden, den Sternenbeobachter zu finden, diesen Brelius Vandanten, dem er zuvor noch nie persönlich begegnet war. Um ihn zu finden, hatte Antilius vor, sich