Verlorenend. S. G. Felix
Alte schaute ihn verdutzt an. »Woher soll ich das wissen?«
»Ich dachte, Sie kennen sich mit diesem Ding aus.«
»Na, da hast du dich aber gründlich geirrt. Ich weiß nur, wie man damit umgeht, mehr nicht. Ich habe es von meinem Vater gelernt. Und der von seinem Vater. Viele Generationen lang hat meine Familie die Gondelbahn am Leben gehalten, obwohl keiner jemals ihr Geheimnis entschlüsseln konnte. Die Gondeln sind uralt. Es ist ein Wunder, dass sie noch funktionieren.« Der alte Mann wirkte ein wenig gekränkt.
Antilius schaute sich nachdenklich um. »Nicht viel los hier«, sagte er und richtete dann einen prüfenden Blick auf den Alten.
»Du bist ein guter Beobachter, mein Junge.«
»Wieso habe ich das Gefühl, dass seit langer Zeit keiner mehr mit diesen Gondeln hier gefahren ist?«
Der Alte wich Antilius’ Blick aus. »Nun, das könnte daran liegen, dass es mit den Gondeln vor einiger Zeit ein paar sehr unglückliche Unfälle gegeben hat.«
»Unfälle?«, wiederholte Antilius vorwurfsvoll.
»Ganz recht, mein Junge«, antwortete der Alte nüchtern.
»Und das sagen Sie mir erst jetzt?«
»Mach dir keine Sorgen! Ich selbst bin mit dieser Gondel hier schon so oft gefahren. Dir wird schon nichts passieren.«
Antilius wusste, dass er mit dem schweren Gepäck unmöglich die Strecke zu Fuß bewältigen konnte.
»Also, mein Junge, ich würde vorschlagen, du beeilst dich jetzt mal ein bisschen. Die Sonne geht bald unter, und bis zur Stadt ist es ein langer Weg. Da du es heute nicht mehr schaffen wirst, dort anzukommen, empfehle ich dir, beim Großen Denkmal zu übernachten. Dort ist es sicher. Von einer Rast mitten im Alten Wald rate ich dir nämlich dringend ab.«
»Wieso das?«
»Hast du noch nie etwas von Piktins gehört, mein Junge?«
»Nein. Piktins? Was soll das sein?«
»Wer sind die?, solltest du fragen.« Die Miene des Alten verfinsterte sich. »Es sind kleine hässliche Kreaturen, die hier in den Wäldern leben. Ihr kräftiges Gebiss ist im Verhältnis zu ihrem Körper riesig, und mindestens genauso groß ist auch ihr Hunger. Sie jagen am liebsten in der Abenddämmerung oder nachts. Sie zerfetzen alles, was ihnen vor ihre schleimige Nase kommt. Vor vielen Jahren bin ich einem dieser Biester nur knapp entkommen. Auf meiner Flucht habe ich mir das Bein gebrochen. Es ist nie wieder richtig verheilt«, sagte er und klopfte sich mit dem Gehstock leicht gegen das rechte Bein.
Sind Sie sicher, dass Sie sich das Bein nicht in einer ihrer Knochenbrecher-Gondeln verletzt haben?, wollte Antilius sagen, zwang sich aber dazu, es zu lassen.
Er wusste zunächst nicht, ob er dem Alten Glauben schenken sollte. Als er sich jedoch bewusst machte, dass er sich an einem ihm völlig fremden Ort befand, entschied er sich, die Warnung ernst zu nehmen.
»Na dann, Jungchen. Gute Reise. Und lass dich nicht auffressen!«
Daraufhin lachte der Alte wieder. Antilius jedoch konnte wieder einmal nicht mitlachen. Er verabschiedete sich höflich, belud die Gondel mit seinen Sachen und stieg anschließend selbst hinein. Dann betätigte er den Beschleunigungshebel, woraufhin der Antrieb ein dumpfes Geräusch von sich gab und das Gefährt langsam in Fahrt brachte.
Die Nacht im Wald und das, was sich im Wald verbarg
Die Abenddämmerung hatte eingesetzt. Der dichte Laubwald schien kein Ende nehmen zu wollen. An vielen Stellen waren die Äste so weit in den Schienenbereich hineingewachsen, dass sie die vorbeifahrende Gondel streiften.
Er wurde langsam nervös. Die Sonne war schon fast untergegangen, und jeden Augenblick würde die Dunkelheit hereinbrechen. Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte etwas Ungeheuerliches vor ihm auf: Ein paar hundert Meter voraus erblickte er einen riesigen Statuenkopf, der sogar die höchsten Baumwipfel überragte. Er stellte das Haupt eines Mannes dar. Antilius war überwältigt. Diese Statue musste unfassbar riesig sein. Kurz nach seiner Entdeckung näherte er sich auch schon der von ihm sehnlichst erwarteten Abzweigung. Ein Zug am entsprechenden Hebel an der Schalttafel der Gondel genügte, um auf die abzweigende Schiene zu gelangen. Kurz darauf hielt die Gondel in einer der zahlreichen Parkbuchten, die genauso ausschauten wie die am Bahnhof. Als Antilius dann aus der Gondel ausstieg, stutzte er, weil keine andere Parkschiene besetzt war. Er war wieder ganz allein. Dieses aufkeimende Gefühl von Einsamkeit gefiel ihm überhaupt nicht.
Die monströse Statue war durch den dichten Wald von hier aus nicht zu sehen. Er holte seine Tasche mit dem Zelt darin aus dem Laderaum der Gondel heraus und lief den kurzen, sehr dicht mit Sträuchern bewachsenen Weg zum Platz des Alten Denkmals. Als er es endlich erreichte, eröffnete sich ihm eine surrealistische Kulisse. Die Statue, deren Kopf er bisher als Einziges gesehen hatte, war wirklich unglaublich riesig. Er schätzte, dass sie etwa vierzig Meter oder mehr in die Höhe ragte. Die steinerne Gestalt lagerte ihr Gewicht auf das linke durchgedrückte Bein, während das andere leicht angewinkelt war. Einen Arm stützte sie in die Hüfte. Der andere hielt ein riesiges Schwert.
Wer mochte diese Person gewesen sein? Da Antilius die Statue bis dahin nur von der Seite gesehen hatte, lief er soweit um sie herum, bis er sie direkt von vorne betrachten konnte. Unter ihren Füßen, auf dem riesigen Sockel erblickte er eine stark oxidierte Kupferplatte, auf der 'Der König Arcadiens, der den Frieden brachte.' geschrieben stand.
Antilius runzelte die Stirn. Arcadien? Einen Ort oder eine Stadt mit diesem Namen gab es heute nicht mehr. Die Zeit, als es noch Könige gab, war vermutlich weit über 900 Jahre her. Im Königskrieg wurden unfassbarerweise fast sämtliche Aufzeichnungen und Dokumente, die heute Auskunft über das damalige Zeitgeschehen hätten geben können, vernichtet. Es gab auf ganz Thalantia nur noch wenige Gelehrte, die durch mündliche Überlieferungen noch in der Lage waren, die Zeit der Könige annähernd zu rekonstruieren.
Langsam löste Antilius seinen Blick von der Statue und schaute sich um. Eine wunderschöne runde Brunnenanlage zierte zu Füßen des steinernen Königs den Platz. Sie funktionierte allerdings nicht mehr. Langes lindgrünes Gras wuchs in dem kreisförmigen Becken. Alles war ziemlich verwahrlost. So überwucherten Unkraut und Büsche die Seitenränder des Beckens.
Auf dem runden Platz, der vom Wald eingeschlossen war, standen überall mehrere Bänke und verwitterte Laternen. Genau wie der Brunnen auch, hatte die Natur alles übergrünt und ließ einen nur erahnen, wie es hier ausgesehen haben mochte, als es den Wald noch nicht gegeben hatte. Dies war ein sehr belebter Ort gewesen, doch der einstige Kult um diesen König musste irgendwann abgeebbt sein. Niemand kam mehr hierher.
Antilius baute rasch sein kleines Zelt auf. Er wollte sich schon schlafen legen, da hörte er plötzlich hinter sich ein leises Knacken, das von einem kleinen brechenden Ast ausgelöst wurde. Schnell drehte er sich um und schaute angestrengt in den dunklen Wald. Vielleicht näherte sich ja eines dieser gefräßigen Piktins. Er ging etwas dichter auf den Waldrand zu. Mittlerweile war es zwischen den Bäumen schon ziemlich dunkel geworden. Nur noch wenig war zu erkennen. Besorgt holte er seine kleine Petroleumlampe aus dem Zelt, entzündete sie und leuchtete damit sorgfältig die Stelle ab, aus der das Geräusch gekommen war. Er konnte jedoch nichts Ungewöhnliches ausmachen. Vielleicht war es ja irgendein kleines Tier, das hier lebte, oder es war einfach nur ein vertrockneter Ast, der von einem Baum gefallen war.
Vielleicht.
Die Angst, nachts im Schlaf von diesen Tieren verspeist zu werden, kroch eiskalt in ihm hoch. Aber vermutlich hatte der Alte vom Bahnhof ihm mit der Gruselgeschichte über die Piktins nur Angst machen wollen.
Antilius ging zurück zu seiner Gondel und fischte aus dem Gepäckraum ein kleines Messer heraus – nur zur Sicherheit.
Mittlerweile war es nun fast gänzlich dunkel geworden. Sehnsüchtig blickte er auf die Laternen des Platzes. Sie spendeten wohl schon seit Jahrhunderten kein Licht mehr und würden es auch in dieser Nacht nicht tun. Dann hörte er