Ein ehrbares Haus. Maxi Hill
nicht vom Fleck. Irgendwann huscht er hastig zum Briefkasten, stöbert die Post durch, nimmt aber nur einen einzigen Brief an sich und fährt wieder davon. Sie ist nicht mehr frei von Zweifel, und das hat nichts mit Misstrauen zu tun. Sie findet es reichlich übertrieben von ihm, die wenigen Stunden bis zum Feierabend nicht abwarten zu können, seine Post zu lesen. Was kann es sein, das sie nicht sehen darf? Sie liest seine Post nicht.
Ist es seine Post? Sicher. Pam erwartete keine. Nicht zu Hause. Wer sollte ihr im Zeitalter von Handy und Flatrate nach Hause schreiben? Ornella schreibt liebend gerne Briefe. Ja, Ornella könnte ruhig mal was von sich hören lassen, denkt sie. Sie fehlt Pam, aber diese Wohnung war ihr wichtiger. Ihr behagliches Nest für ihre kleine Familie. Ist es in diesem Haus wirklich behaglich? Zumindest ist es Selbstbetrug zu sagen, die Leute würden ihr egal sein?
Ein ehrbarer Junggeselle
Aus sicherer Distanz hinter der Fensterscheibe im Hochparterre sieht drei Wochen später Carlo von Findeisen die junge Frau mit dem Kinderwagen kommen. Das geht nicht lange gut, denkt er bei sich. Sein Blick liegt gebannt auf dem hellen Haar. Eine alte Erinnerung treibt ihm das Blut an die Peripherie. Er springt auf. Hastige Schritte tragen ihn zur Tür, doch er darf jetzt keinen Schritt weiter gehen. Erst einmal schiebt er seine Hand tief in die Hosentasche. Ein kurzer Schauer durchfährt seinen Körper, dann setzt er sich wieder und entlässt schweren, heißen Atem. Seit diese Frau hier wohnt, muss er sehr oft an damals denken:
Es war an einem trüben Sonntag. Damals lebte er noch am Rhein. Sein Vater war mit Mutter ausgegangen und Carlo durfte nicht mit. Oh, wie hatte er Mutter deswegen gehasst – den Vater nicht. In seinem Zwiespalt zwischen ohnmächtiger Wut und Einsamkeit war dann ein Gefühl über ihn hereingebrochen, das er später so liebte und gleichsam fürchtete. Er war auf die Straße gelaufen und hatte dieses blonde Mädchen getroffen, verschüchtert und ebenso einsam wie er selber war. Etwas zu versprechen beherrschte er schon damals ausgezeichnet, und die Kleine folgte ihm in den schmalen Gang, der zwischen zwei großen Mietshäusern in einen Hinterhof führte. Ein Knallerbsenstrauch schützte sie beide vor neugierigen Blicken. In der Nische am Ende des Durchganges hatte Carlo oft gesessen, immer das Gleiche im Sinn. An diesem Sonntag aber war es anders gewesen.
Carlos Körper vibriert inwendig. Es ist der gleiche Schauer wie vor dreißig Jahren. So lange schon ist dieses Gefühl sein Dauergast.
Die zarte Kleine kommt tiefer in sein Bewusstsein; ihr Geruch nach Milch und Seife, als sei es gestern gewesen.
Das helle Haar des Kindes fiel auf die schmalen Schultern und kräuselte sich wie Sauerkraut im grauen Dunst des Herbstnebels. Es machte ihm nichts aus, mit engelssüßen Worten etwas Schönes zu versprechen. Er sah den glänzenden Blick und spürte die warme, weiche Hand. Im Nu packte er sie und zwang sie zu tun, was er sonst selber tat. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er den lustvollen Moment, an den er fortan jeden Tag seines Lebens gedacht hat. Die zarte Hand der Kleinen hat er noch oft geführt und nie wieder vergessen. Die Tränen im ängstlichen Blick waren für ihn wie Perlen des Glücks.
In den Jahren entschwand ihr Gesicht zuweilen. Doch heute ist es wieder da, klar und körperlich erfahrbar. Wird es von nun an jeden Tag zurückkehren, sooft er diese Frau sieht?
Carlo hat Mühe, seine Erregung zu ignorieren, ja sie scheint ihn heute seltsam zu stören. Jetzt, wo da oben diese blonde Schönheit wohnt, die alten Bilder zurückruft in sein Bewusstsein, fließen die ewig gleichen Worte über Carlo von Findeisens Lippen:
»Hätte ich eher etwas von genetischen Defekten gewusst, ich wäre Genforscher geworden! «
Sein Blick durchstreift die Bibliothek, das Prunkstück seines einsamen Reiches. Vielleicht das Beste, was das Haus zu bieten hat, dessen gelbe Hülle kaschiert, was dunkel in ihm steckt. Carlo rekelt sich vor Trutzigkeit und murmelt:
»Jetzt lebe ich hier und niemand weiß Bescheid.«
Seine magere Gestalt füllt den teuren Sessel nicht. Carlo von Findeisen erhebt sich schwerfällig. In seiner Brust tobt ein Kampf zwischen bürgerlicher Norm und kaltblütigem Blick auf das, was er für erstrebenswert hält. Er läuft auf die Veranda und schaut in den Garten, wo dieser düstere Kerl von der hellen Frau einen Buddelkasten gebaut und eine Schaukel aufgestellt hat. Er selbst hat keine Kinder, weil er keine Frau hat. Nie hatte. Nie wollte.
Der Gedanke an Kinder ist die einzige Hilflosigkeit, die ihm noch widerfahren kann. Wut kocht in ihm hoch und treibt ihm die Röte ins Gesicht. Er muss sich ablenken … Und doch tut er das Gegenteil.
Mit hohler Hand umschlossen hält er ein Bild, das einzige, das in einem selbstgefertigten Passepartout steckt. Zitternd fährt sein Finger über das fade Gesicht eines Kindes, kläglich, mit durchscheinender Haut. Seine Augen blicken zornig, seine Hände hält es vor der Brust verschränkt.
An jenem Tag, als das Foto entstand, wusste Carlo von Findeisen, der Junge muss weg. Mit diesem Jungen nahm das Schicksal seinen Lauf.
Er ist klug genug zu verdrängen. Dieses Geheimnis muss eines bleiben, bis zum bitteren Ende …
Er läuft zurück zum Sekretär und schiebt das Bild in den kleinen Karton, der ganz hinten in der untersten Schublade steckt. Wie immer schaut er nach vorn. Der nächste Tag soll ein besserer Tag werden. Für Carlo von Findeisen mag das stimmen.
Die Hitze vor dem Haus bremst seinen Schritt, doch irgendeine Kraft zieht ihn in eben diese Richtung, in die er schon seit Wochen geht.
In Gedanken kann er sie schon sehen, die Schule. Und in Gedanken hört er die zarte Stimme des Jungen. Er bleibt stehen. Die Stimmen kommen in Wahrheit von jenem Spielplatz, den er seit Monaten meidet, den er nicht nötig hat aufzusuchen, seit er diesen einsamen Jungen gefunden hat. Auf dem Spielplatz spielen Kinder. Bei dieser Hitze tragen sie kaum Kleider auf den lieblichen Körpern. Er steht stocksteif, doch sein Herz schlägt rasend schnell. Rosige Haut fesselt seinen Blick. Genau so viel, wie seine Hände brauchen, um zu fühlen, um den Schauer der Lust zu spüren. Schon ist er ganz nah, da hört er eine Stimme:
»Chrissi! Komm, Papa wartet!«
Rasch läuft er weiter, doch die Qual ist wieder da, und sie ist stärker als bei den Bildern aus dem Internet. Sie ist fleischlich, sie riecht süßlich. Sie ist gefährlich.
Vier Minuten später steht er vor der Schule. Er ist wie versteinert und kann kaum einen klaren Gedanken fassen.
Die Zeit bemerkt er nicht, die er so steht. Im Rausch seiner Sinne überhört er das Läuten der Pausenglocke. Eine Unmenge an zarten Körpern läuft vorüber. Keiner beachtet ihn. Nur ein Kind hält inne, für den Bruchteil einer Sekunde, dann hört es seine Stimme und das süße Versprechen, das Carlo so leicht und doch mit großer Atemnot von der Zunge bekommt. Der Junge weiß, was heute passiert. Aber er kann nicht anders. Er ist der süßen Gabe verfallen, die seine Eltern nicht leisten können. Nur er, der reiche kinderlos-kinderliebe Onkel kann es.
Carlo wird immer hitziger und er droht, sich langsam aufzulösen. Der Weg zurück ist viel zu lang, und der Junge an seiner Hand verlangsamt die Schritte, je näher sie dem Haus kommen. Carlo befiehlt sich, Geduld zu haben, jetzt wäre nicht der richtige Moment, den Jungen zu schelten. Es ist schließlich diese Geduld, die ihn belohnen wird, noch an diesem Tag. Es ist die Duldungsstarre eines Raubtieres, das auf den richtigen Moment wartet, um die Krallen ins Fleisch der Beute zu schlagen.
»Onkel Carlo, was machst du heute mit mir?«
»Nenne mich einfach Opa, das ist für mich eine große Freude.«
»Was schenkst du mir heute?«, kommt zaghaft aus dem Mund des Kindes. Carlo mag dieses Fragen nicht. Das Kind soll ihn lieben, nicht erwarten…
»Bald bekommst du dein Zeugnis. Du musst es mir vorbeibringen, damit ich weiß, was du dir verdient hast.«
Die Lippen des Kindes werden schlaff.
»Und wenn du enttäuscht bist?«
»Dann musst du erst recht tun, was dein Opa dir sagt.« Er kostet viel Kraft, dieser gütige Blick. Sie sind dem Haus schon