Indische Reisen. Ludwig Witzani
besuchte einen in seiner Art wohl einzigartigen Ort in der Welt: ein Hospital für Vögel, mit medizinischer Versorgung für kranke Tauben, Spatzen, Hühner, Finken, Krähen, mit Behandlungsräumlichkeiten, Visite und Ventilatoren und einer liebevollen Betreuung durch das Krankenhauspersonal. Eingeteilt nach Arten und Schwere der Erkrankung waren die Patienten in zwei Klassen aufgeteilt: die meisten Tauben logierten in Gruppenkäfigen, nur die schwereren Fällen waren in "Einzelkabinen" untergebracht. An der hintersten Wand im zweiten Stock traf ich auf die hoffnungslosen Fälle, die im Vogelhospital nur noch das gnädige Korn des Sterbens zu sich nahmen: todkranke Tauben mit von Geschwüren grotesk vergrößerten Köpfen, virusinfizierte Hühner, die bereits wie lebende Kadaver in ihren Käfigen lagen und die zu schwach waren, ein wenig Wasser aus den Schälchen zu trinken. Als ich das Vogelhospital verließ, begegnete mir ein zerlumptes Kind, das eine Taube mit gebrochenen Flügeln einliefern wollte. Auch das war Indien.
Ich war aus der Gangesebene nach Delhi zurückgekehrt und hatte bis zum Heimflug noch einige Tage Zeit. Nicht, dass Delhi eine Stadt war, in der es sich besonders entspannt die Zeit verbringen ließe, aber irgendetwas gab es hier immer zu sehen, was beim letzten Mal noch nicht da gewesen war. Diesmal war es der Connaught Place zwischen Alt- und Neu-Delhi, an dem schon seit Jahren gearbeitet wurde und dessen Fertigstellung kurz bevorstand. Auch der Bau der Metro ging voran, wenngleich mich der Bau einer Brücke über die städtischen Bahngleise mehr begeisterte. Endlich gehörten die fürchterlichen Staus auf dem Weg vom Connaught Place nach Paharganj der Vergangenheit an.
Immer wieder neu war auch die Preisgestaltung der Eintrittstickets, die man für den Besuch der Sehenswürdigkeiten Delhis erwerben musste – nur die Richtung war immer die gleiche: nach oben! An meinem ersten Tag in Delhi war der Eintritt zur Djama Masjid noch frei gewesen, so frei wie in fast jeder Moschee in der Welt. Die Abstauber, mit denen ich mich damals hatte herumschlagen müssen, waren mir noch in lebhafter Erinnerung. Nun musste ich für den Eintritt in die Moschee als Ausländer dreihundert Rupien zahlen, doch die Abstauber waren noch immer da. Weil es inzwischen möglich war, für einen Aufpreis eines der beiden Minarette der Freitagsmoschee zu ersteigen, hatten die Bettler in kluger Standortwahl alle Zugänge zu diesem Minarett flächendeckend blockiert. Niemand konnte den Eingang der Minarette erreichen, ohne über die auf dem Boden liegenden Bettler zu staksen, die den Besuchern ihr Leid in Kniehöhe entgegenjammerten
Der Aussichtspunkt des Minaretts befand sich in vierzig Metern Höhe auf einer schmalen Empore mit beängstigend niedriger Brüstung. Tief unter mir erstreckte sich der Innenhof der großen Freitagsmoschee, in dem 25.000 Menschen ihren Platz zum Gebet finden konnten. Dahinter war im morgendlichen Dunst das Rote Fort zu sehen, begrenzt durch die trägen Fluten der Yamuna, die weiter südlich in den Ganges mündete - und im Norden der Moschee befand sich das verbaute und übervölkerte Altstadtviertel mit der großen Basarstraße Chandni Chowk.
Natürlich war Alt-Delhi, so wie ich es jetzt sah, nicht mehr als ein winziger Mosaikstein von Groß-Delhi, einer Stadt, die auf den Ruinen von mindestens sieben weiteren Städten erbaut worden war. Die älteste dieser versunkenen Metropolen befand sich als Ruinenfeld von Lalkot weit im Süden der heutigen Stadt. In den Mauern Lalkots hatten die muslimischen Eroberer am Ende des 12. Jahrhunderts ihren epochalen Sieg über die Maharajas gefeiert und zum Andenken an ihren Sieg das Qutb Minar, das höchste Minarett Indiens, errichtetet. Es folgten Siri, Tughluqabad, dessen Schrecken der mohammedanische Weltreisende Ibn Battuta in seinen Reiseberichten aus dem 14. Jahrhundert beschrieben hatte, sodann Jahanpanah, Kotla und schließlich Purana Quila, in dessen Palästen der Großmogul Humayun im Jahre 1556 von der Brüstung seiner Bibliothek die Treppe herunter fiel und starb.
Nach diesen sechs Städten wurde im 17. Jahrhundert Shahjahanabad erbaut, Delhis siebte Kapitale, die der Mogulkaiser Shahjahan gleichsam aus dem Boden stampfen ließ. Alles, was ich heute von der Spitze des Minaretts aus sehen konnte, war in seiner Ägide errichtet worden: das Rote Fort, die Freitagsmoschee, die damalige Prachtstraße Chandni Chowk und nicht zuletzt eine neun Kilometer lange Stadtmauer. Nie vorher und nie nachher war in Indien derart aufwendig gebaut worden wie unter der Regentschaft Shahjahans, und da zur gleichen Zeit auch das Taj Mahal in Agra entstand, ganz zu schweigen von den Prachtbauten in Lahore, der dritten Kaiserstadt, war der Mogulstaat angesichts dieser Kosten an den Rand des Staatsbankrotts geraten.
Heute ist Delhis siebte Stadt Shahjahanabad nur noch ein demografisches Mosaik inmitten einer der größten Städte Asiens. Längst hatten die Betonstraßen, Wohnsilos, Armensiedlungen oder wo auch immer die Einwohner Delhis leben mochten, alle sieben historischen Städte miteinander verbunden. Niemand wusste genau, ob elf, dreizehn oder fünfzehn Millionen Menschen den Ballungsraum Groß-Delhis bewohnten - die dichteste Bevölkerungskonzentration dieser Megapolis aber pulsierte noch immer in Alt-Delhi.
Alt-Delhi Bahnhof nördlich der Chandni Chowk glich einer Katakombe des Lebens - riesig, unübersichtlich und zweckentfremdet. Er war nicht nur ein Umschlagplatz für Millionen Reisende, die Heimat Hunderttausender von Ratten, sondern auch ein Ort des Überlebens für die Ärmsten der Armen, ein leidlich trockener Lagerplatz während des Monsuns, ein windgeschützter Winkel in der kalten Jahreszeit, aber immer auch so überfüllt, dass Hunderte Familien unter dünnen Decken und Zellophanplanen vor den Eingängen und den Hallen des Bahnhofs schlafen mussten. Nach Einbruch der Dunkelheit stimulierte der Anblick des Bahnhofsbezirkes ohne jede Straßenbeleuchtung die bedrückende Vision vom Ende des städtischen Lebens nach dem Verschwinden der Elektrizität und der Wiederkehr des Lagerfeuers in der Millionenstadt.
Die Basarstraße Chandni Chowk war fast über ihre ganze Länge durch einen meterhohen Eisenzaun in zwei Fahrbahnhälften geteilt, damit der kaum noch entwirrbare Strom von Fahrrad- und Motorrikschas, Kamelen, Kühen, Autos und Fußgängern wenigstens die Richtung beibehielt. Die Fußgänger, die auf beiden Seiten der Straßen dieser Richtung folgten, liefen durch überfüllte Basar-Arkaden, in deren Auslagen sich Tradition und Moderne mischten: kostbare Seidensaris und Massentextilien waren ebenso zu finden wie handgearbeiteter Silberschmuck und Glasketten, Gewürze und Konserven, religiöse Devotionalien und Plastikeimer - viele davon paradoxerweise aus China importiert.
Äußerlich fraglos das schönste Gotteshaus auf der Chandni Chowk war die Sonehri Masjid, die "Goldene Moschee", deren zwiebelartige Kuppeln am Ende des 18. Jahrhunderts auf einem noch älteren Bau errichtet worden waren. Jeder, der von der chaotischen Straße in die Stille der Gebetsräume trat, spürte, dass die Moschee in Indien ein gesegneter Platz war, und sei es auch nur als Membrane der Lautlosigkeit innerhalb eines kakofonischen Normalzustandes. Im Unterschied zur großen Freitagsmoschee herrschte eine Stimmung weltentrückter Andacht: Männer in Straßenkleidung saßen in den Ecken und blätterten im Koran, manche lagen lang ausgestreckt auf dicken Teppichen und schliefen. Man hat den Islam als die Religion des Stolzes bezeichnet, was den Sachverhalt ganz gut trifft, denn die Selbstgewissheit der Menschen in den Moscheen war ebenso beeindruckend wie die Intransigenz gegenüber anderen Religionen erschreckend.
Die Erinnerung an solche Intoleranz war untrennbar verbunden mit dem Namen des letzten Großmoguls Aurangazeb (1658-1707), der nach der Absetzung seines Vaters Shahjahan eine strikt islamisch begründete Neuorientierung der gesamten Reichspolitik vollzog. Das Gerichts- und Wirtschaftsleben, vor allem aber die Steuergesetzgebung, wurden zum Nachteil der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit so stark verändert, dass es zu Aufständen in allen Teilen Indiens kam, denen der Mogulstaat langfristig erliegen sollte. Neben den Rajputenfürsten und der zentralindischen Marathen-Konföderation erhoben sich auch die Sikhs gegen die fundamentalistische Religionspolitik des neuen Kaisers. Auf der Grundlage der Lehren ihrer zehn großen Gurus hatten die Sikhs im 16. und 17. Jahrhundert die Grundzüge einer Theologie entwickelt, die Wesenselemente des Hinduismus und des Islam auf eine durchaus originelle Weise miteinander verband. Doch Aurangazeb hatte mit irgendwelchen Religionssynthesen nicht viel im Sinn. Als Teg Bahadur, der neunte der zehn Gurus, sich im Angesicht Aurangazebs weigerte, seinen Glauben zu widerrufen, ließ ihn der Großmogul zusammen mit seiner Gefolgschaft im Jahre 1675 kurzerhand wie einen Verbrecher unter einem Baum an der Chandni Chowk enthaupten.
Genau an diesem Ort, heute nur wenige Meter von der Sonehri Masjid entfernt, erbauten die Sikhs später das neben dem Goldenen Tempel von Amritsar bedeutendste Heiligtum ihrer Religion, den Sikhtempel Sis Ganj