Indische Reisen. Ludwig Witzani
kontrollieren kann.
So weit ich sehen konnte, war ich tatsächlich der einzige Tourist in Lord Ramas Stadt, und so war es kein Wunder, dass ich immer wieder angesprochen wurde. Ein Inder, mit dem ich an einem Tschaistand ins Gespräch kam, stellte sich als Pilger aus Indore in Madhya Pradesh vor und erzählte, dass die Steinmetze in Ayodhya schon mit der Planung für den neuen Ramatempel begonnen hätten. Für ihn konnte es keinen Zweifel daran geben, dass in uralten Zeiten in Ayodhya ein großer Ramatempel gestanden hatte, und bald würde es wieder so sein, spätestens dann wenn die BJP die nächsten Wahlen gewänne. An einem Marktstand mit Rama- und Sitabildern in allen Größen und Preislagen wurden DVDs angeboten, auf denen der Angriff auf die Moschee als Filmdokumentation zu sehen war. Untermalt von martialischer Musik zeigten die Aufnahmen in verwackelten Bildern wie die fanatisierten Massen am 6. Dezember 1992 brüllend durch die Straßen Ayodhyas zogen, um sich mit den Polizisten zu prügeln, die nach kurzer Zeit Reißaus nahmen. Hindufahnen wehten im Wind, Umrisse einer Ramaskulptur wurden eingeblendet, dann erschienen Hindus mit Hacken, Spaten und Beilen und begannen damit, die Moschee zu demolieren.
Während ich mir diese Filmausschnitte ansah, bildete sich eine Zuschauergruppe von Jugendlichen um mich, die mit beifälligem Kopfnicken dem Geschehen auf dem Screen folgten. Die Stimmung war triumfalistisch, über die Kräfteverteilung vor Ort konnte es keine Zweifel geben.
Hinter dem Devotionalienmarkt befand sich der Bezirk der zerstörten Moschee, doch auf den ersten Blick war nichts anderes zu erkennen als ein mehrstöckiges Haus und eine hohe Mauer, die jeden Einblick in das Gelände verhinderte. Soldaten hatten den gesamten Bezirk weiträumig abgeriegelt und mehrere Kontrollposten errichtet, an denen alle Pilger intensiv gefilzt wurden. Meine Kamera, meinen Reiseführer, selbst mein Skizzenbuch musste ich bei einer wenig vertrauenserweckenden Gepäckaufbewahrung abgeben, und selbst danach war der diensthabende Offizier unsicher, ob ich als Ausländer ohne schriftliche Genehmigung irgendeiner Behörde Zutritt zum Gelände erhalten sollte. Er war klein und fett, schnauzbärtig und dunkelhäutig, alles in allem keine Heldengestalt, die an Lord Rama erinnerte, aber deutlich verärgert über die Scherereien, die ihm meine Anwesenheit bereiteten. Ein Rückruf in die Kommandozentrale ergab keine bündige Auskunft, sodass er sich erst einmal eine Zigarette ansteckte und rauchte. Dann geschah eine halbe Stunde nichts, während ich mich in den Schatten setzte und die indischen Pilger beobachtete, die die Kontrollen anstandslos passierten und in dem Haus verschwanden. Dann erschien ein zweiter Offizier, wechselte ein paar Worte mit seinem Mitstreiter, der eine wegwerfende Handbewegung in meine Richtung machte. Dann durfte ich hinein.
Zu meiner Überraschung begann nur wenige Meter hinter dem Eingang ein mannshoher, etwa einen Meter fünfzig breiter Käfiggang, der über eine Strecke von etwa zweihundert Metern aus dem Haus heraus auf das Gelände der zerstörten Moschee führte. Rechts und links von diesem schlauchartigen Käfigverhau standen schwer bewaffnete Soldaten und beobachten mit Argusaugen jede Regung innerhalb der Menschenmenge. Die Armeeangehörigen hatten automatische Waffen in den Händen und die meisten von ihnen standen hinter Sandsäcken, als sei jeden Augenblick der Ausbruch einer rasenden Menge aus dem Drahtverhau möglich. Aus der Luft gegriffen war diese Vorsicht nicht - seitdem im Oktober 2001 Hindufundamentalisten auf dem Gelände randaliert hatten und vor allem seitdem fünf schwer bewaffnete moslemische Selbstmordattentäter im Juli 2005 den Ramaschrein angegriffen hatten, mussten die Behörden jederzeit mit einer Attacke rechnen.
Niemand schaut in das Herz religiös ergriffener Mitmenschen hinein, doch als ich mich umblickte, kam mir diese Vorsorge übertrieben vor. Jugendliche in ihren besten Jeans und mit gefakten Marken-Shirts, alte Mütterlein in ihren Saris, aber auch Brahmanen in ihren weißen Umhängen bewegten sich brav und gottergeben im Entengang durch den Käfig. Neben mir ging ein älterer Hindu aus Kathmandu, der mir erzählte, dass er sein Leben lang für die Wallfahrt nach Ayodhya gespart hatte. Nun sei seine Frau überraschend gestorben, und er müsse Rama alleine seine Verehrung bezeugen.
Langsam änderte sich die Stimmung, je mehr wir uns dem Ramaschrein näherten. Von vorne hörte man die Gesänge und Parolen der Pilger, die den Schrein bereits erreicht hatten, die Skandierungen pflanzten sich fort bis in meine Umgebung, in der nun sogar die älteren Frauen zu zetern begannen. Die Körpersprache der Pilger um mich herum veränderte sich, plötzlich lag Spannung in der Luft, und die Jugendlichen im Käfiggang blickten mit düsteren Mienen auf die Soldaten jenseits der Käfiggitter. Es dauerte noch weitere zehn Minuten, ehe ich inmitten dieser aufgeregten Menschenmenge den Eingang der zerstörten Moschee erreichte und aus etwa vier Metern Entfernung einen Blick auf den Ramaschrein werfen konnte. Durch die hin- und herlaufenden Soldaten kaum zu sehen, erkannte ich ein winziges Murti, eine Götterdarstellung auf einem Unterstand, eingehüllt in rote Tücher und geschmückt mit zahlreichen Blumengirlanden. Das wars. Kaum zu glauben, dass ein derart kümmerliches Gebilde einen ganzen Subkontinent in Wallung bringen konnte. In meiner Umgebung aber brachen die meisten Pilger beim Anblick des Ramaschreins in laute Ram-Ram Rufe aus, manche schüttelten die Fäuste und einige rüttelten sogar an den Gitterstäben, als wollten sie aus dem Käfig ausbrechen. Ein Hauch von Hysterie lag in der Luft, die Mienen vieler Pilger schwankten zwischen Zorn und Schmerz, als gräme sie das Unrecht, dass ihrem Gott am Ort seiner Geburt von den Moslems angetan worden war. Der Käfig, in dem sie Lord Rama gefangen wähnten, umgab nun auch sie, die doch nichts anderes im Sinn hatten, als ihrem geschändeten Gott zu huldigen. Es war heiß, eng und nervig, die Gesichter der Soldaten mit ihren Gewehren im Anschlag jenseits des Drahtganges aber blieben unbewegt Gefühlsregung von ihrer Seite hätte die Situation eskalieren lassen können.
Jedem, der in die zwanghaft neutralen Gesichter der Soldaten und die kämpferischen Mienen der Pilger blickte, hätte an der Zukunft Indiens fast verzweifeln können, denn die Situation war ebenso artifiziell wie hoffnungslos. Gerade weil religiös fanatisierte Gruppen, wenn man ihnen in einem säkularen Staat freie Hand ließe, diesen Staat sprengen und das ganze Land in einen Bürgerkrieg stürzen würde, hatte man in Ayodhya diese religiösen Energien buchstäblich eingehegt. Man hatte sie in Gestalt der Pilger wie gefährliche Infektionsquellen hinter Draht gesperrt, sodass sie isoliert und kontrollierbar blieben. Der abstoßend hässliche Drahtverhau von Ayodhya war nicht mehr und nicht weniger als die mühsam bewachte Brandmauer, die den weltlichen indischen Staat davor bewahrte, auseinandergerissen zu werden. Sobald dieser Käfig hier oder anderswo fallen würde, wäre es um diesen Staat geschehen.
Vielleicht hatte dieser Zusammenbruch auch schon begonnen. Denn als die islamistischen Terroristen im Jahre 2007 das Massaker in Taj Mahal Hotel in Bombay anrichteten und mit ihren automatischen Waffen wehrlose Menschen niederschossen, schrien sie: „Remember Babri Masjid!“
VII Die Stadt auf den Ruinen der Städte
Streifzüge durch Alt-Delhi
Die Hölle der Hühner befand sich noch immer in einer der Seitenstraßen des Chitli Basars von Alt-Delhi. Schon an meinem ersten Tag in Indien, als die Fremdartigkeit dieses Landes über mich zusammengeschlagen war wie eine Heimsuchung, hatte mich das mit der bloßen Hand vollzogene Massaker an dem wehrlosen Federvieh geschockt. Nichts hatte sich seitdem verändert – noch immer dampften die herausgerissenen Eingeweide in den Rinnsteinen, und aus den Hügel voller Knochenreste ragten die gelben Füße der Hühner zu Hunderten wie kleine Arme mit drei Fingern heraus.
Aber inzwischen hatte ich auch das Paradies der Hühner gefunden. Es befand sich ganz in der Nähe des Chitli Basars in einem Anbau des Digambara-Jainatempels Lal Mandir an der großen Basarstraße Chandni Chowk. Ein bemitleidenswert dreinschauendes Huhn mit einer großen Wunde über seinen Augen, dem ein Jaina-Tierarzt behutsam eine Salbe über die verletzte Stelle schmierte, war das erste, das ich sah, als ich den Tempel betrat. Ganz still hielt das Tier, als wüsste es, dass dieser Mensch ihm nichts Böses wollte. Im Nebenkäfig schien ein anderes Huhn seine Rekonvaleszenz bereits beendet zu haben - munter und hektisch wie Hühner nun einmal sind, lief es in seinem Käfig auf und ab, pickte die