Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer
lieben uns, o Frühling, immer fort.“
Für die anderen war dies offenbar auch ein aufregendes Gedicht. Sie klatschten und lachten, manche Lacher klangen wie auf der Hochzeit im Schönbucher Wald. Mussten erregende Vorstellungen vulgär sein? Die Frau schaute sich im Raum um. Suchte sie einen Platz? Sie kam auf mich zu. Tatsächlich war neben mir etwas frei. Ich rutschte zur Seite. Sie hockte sich hin, die Beine im Schneidersitz geöffnet, ihr dunkler Rock darüber, und nahm mir mein Glas aus der Hand. Sie trank einen Schluck. Dann wies sie mit dem Glas in den Raum. Ich sah Iker dort stehen. In Baskisch hätten ihn keiner verstanden. Aber sein Gedicht in Spanisch auch nicht viele.
„De una del mar gris
Te regalo mi voz
Te regalo mi cuerpo
Te regalo mi sangre
Te regalo mi corazón
Te regalo mi dolor
Y un rayon illusiónes.”
In ein paar Stunden Volkshochschule und bei dem Chilenen hatte
ich nicht viel gelernt, doch verstand ich, eine am grauen Meer schenkte einem ihre Stimme, ihren Körper, ihr Blut, ihr Herz, ihren Schmerz und Illusionen dazu. Das war ebenfalls aufregend, fand auch die Frau an meiner Seite, die mit dunklem Ah dem Text zustimmte und an meinem Glas nippte. Sie stieß mir dabei ihren Ellenbogen in die Seite. Ich hielt unwillkürlich ihren Arm fest. Überrascht wandte sie sich mir zu. Ein Eulengesicht mit zwei Falten zwischen den runden Augen und einem vollen Kussmund unter der scharfen Nase. Sie zog ihren Arm nicht zurück, sondern drehte ihren Körper zu mir, im Schneidersitz, das Glas balancierend, und stützte sich mit ihrem spitzen Ellenbogen auf meinem Schenkel ab.
Das konnte ich tapfer ertragen. „Wo kann man sich hier etwas zu trinken besorgen?“ fragte ich.
„Ach!“ Sie gab mir mein Glas zurück. Es war leer.
„Komm mit. Ich weiß wo.“
Noch einmal der spitze Ellenbogen. Die Gedichtstunde schien beendet zu sein. Musik war zu hören. Edith Piaf sang Je ne regrette rien. Ich folgte der Frau an schmusend tanzenden Paaren vorbei. Eine Glasfront führte auf eine Dachterrasse hinaus. Durch geöffnete Türen wehte ein kalter Hauch herein. Die Lichter der Stadt schimmerten durch den Nebel. Straßenlärm drang herauf. Wir kamen in die Küche. Einen Augenblick blendete das helle Licht. Ein paar Leute schwatzten vor dem Kühlschrank. Sein Inneres war mit dickem Eis überzogen weil er dauernd geöffnet wurde. Und jetzt von der Frau natürlich. Wie hieß sie denn? Ursula. Bier und Wein gab es in dem Eis und Whisky und Wodka und sonst noch Getränke, die ich nicht kannte, und auf einer Anrichte neben dem Kühlschrank standen unzählige Gläser, große und kleine und unzählige Flaschen mit bunten Etiketten und buntem Inhalt, rot und blau und weiß… Ich sei der neue Trompeter. Ja. Ein Bier hätte ich gerne. Sie mochte am liebsten Tequila mit Limonen. Um ihren Mund waren winzige Falten. Die Tusche um die Augen war verschmiert.
„Hast du dein Gedicht selbst geschrieben?“
„Ja.“
„Ganz schön gewagt.“
„Was ist gewagt daran?“
„Brüste und Schoß schenken…“
„Was ist gewagt daran?“
„Dass du es sagst – und wie…“
„Von Liebeslust zu sprechen und zu schreiben finde ich nicht gewagt. Es ist Freiheit, darüber zu reden und zu schreiben. Man sollte es nicht unterdrücken. Über das Wie kann man natürlich diskutieren.“
Wir wanderten durch die Wohnung. Um uns tanzende Paare zur Musik. Bert Kämpfert mit schmeichelnden Trompeten. Überall mussten Lautsprecher versteckt sein. In einem Erker sah ich das Bild. Dezent beleuchtet. Alles in Elfenbein. Nur die Brustwarzen braun. Nackt vor dem Kachelofen. Nina. So nah. So groß. Als ob sie vor mir stünde. Ich musste meinen Arm zurückhalten, meine Hand. Nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Ich hätte ihr Haar gestreichelt, ihre Wangen, ihren Mund, ihre Schultern und alles… Und alles nur Farbe. Mir wurde heiß. Ich fühlte, wie ich rot wurde.
„Ich glaube, du kennst sie, Nina Kornasow“, hörte ich Ursulas dunkle Stimme, „die Freundin von Horst.“
„Ja. Ein wenig.“
„Horst hat auch von mir solch einen Akt gemalt. Im Wohnzimmer da hinten, im Licht der Dachterrasse. Wir waren mal zusammen. Danach hab ich ihm das Bild für tausend Mark abgekauft.“
Das lenkte mich von Nina ab. Ich betrachtete Ursula und versuchte, mit Fantasie den vielen Stoff um sie herum hinwegzuzaubern. Gewiss hatte sie nicht Ninas göttliche Figur. Sie war ja auch älter. Es würde alles nicht so fest sein. Fraulich. Weiblich. Musste nicht göttlich sein.
Ich sah in ihren Eulenaugen, dass sie sah, was ich dachte. Sie verzog ihren Mund zu einem breiten Lachen. „Horst hätte das Bild möglicherweise im Jazzkeller aufgehängt. Dass es irgendwo in seiner Wohnung blieb, wollte ich auch nicht. Ich habe nichts dagegen, nackt zu sein, in einem Bach und auf einer Wiese bin ich das gern, wie ich vorgetragen habe. Aber so lange ich lebe, möchte ich wissen, wer mich so ganz nah betrachtet.“
Jedenfalls konnte Horst Krohn auch schöne Bilder malen. An der gegenüberliegenden Wand hing aber wieder ein abscheuliches. Ein hässliches Männergesicht in verschmierten Farben.
„Das ist der weinende Mann“, sagte Ursula.
„Warum weint er denn?“
„Weil er die Welt scheiße findet.“
„Hätte er besser eine schöne Frau gemalt, die weint.“
„Frauen weinen nicht über die Welt, über ein totes Kind gewiss oder über einen Mann vielleicht…“
Auf einmal wurde die Musik von lärmendem Aufruhr übertönt. Die tanzenden Paare lösten sich und die am Boden kauernden, quatschenden oder schmusenden gingen auseinander. Horst Krohn torkelte herein. „Ich lebe wie es mir gefällt!“, schrie er. „Ich kenne keinen Zwang und keine Gesetze!“ Nina war bei ihm. Sie versuchte ihn zu umarmen, ihn fest zu halten. Er schüttelte sich und stieß sie heftig von sich. Sie stürzte zu Boden. „Ich bin Horst Krohn, der Freie!“, schrie er weiter. „Jubelt mir zu! Über mir ist niemand. Und unter mir der ganze Rest der Welt.“ Sein Bart zitterte. „Und unter dem Rest der Welt sind noch Frau Doktor und Herr Professor, Beschützer der Arier vor rassischer Verschmutzung! Die waren so blöd und wussten gar nicht, was arisch bedeutet…!“
Er hatte verrückte Augen. Zuviel getrunken?
„Der hat sich noch irgendein Zeug reingezogen.“
Nina war wieder bei ihm. Ihr Gesicht gerötet und ihre Haare nass. Warum trug sie nur einen Bademantel? Sie redete auf ihn ein. Beruhige dich. Beruhige dich. Es gelang ihr, Horst aus dem Kreis der Partygäste in ein anderes Zimmer zu ziehen. Einige lachten. Die meisten schwiegen verlegen. Die Musik wurde indes wieder allgegenwärtig. Come prima, come prima, sang der Italiener Tony Dallara. Musik zum Schmusen. Ich tanzte mit Ursula. Sie war schmiegsam. Jeden Schritt und jede Bewegung fühlten wir, als ob wir ein Körper wären. Ihr wurde warm, und sie zog ihren Pullover aus. So konnte ich mehr von ihr spüren. Und wir wogen uns weiter
im Takt, die Platters sangen Only you und Dietmar Schönherr hauchte, Ich suche die Liebe und finde sie nicht. Der Hausherr war
betrunken in irgendeinem Zimmer. Die Party ging trotzdem weiter. Betrunken waren dann auch noch andere Gäste und voll mit Zeug, wie Ursula bemerkte. Das kümmerte mich nicht. Ich wollte nur unsere simultanen Bewegungen spüren.
„Ich bin eigentlich kein Nachtmensch“, sagte sie irgendwann. Ob ich sie nach Hause bringen soll. Nein. Sie gehe jetzt lieber allein. Wir würden uns am Samstag im Jatsskäher sehen, vielleicht, und wenn ich sie dann immer noch so drücken wolle, könnten wir uns mal treffen, vielleicht… Sie küsste mich auf die Wange. Ich hielt eine Weile ihr Gesicht fest. Eulengesicht. Die Falten um den Mund konnte ich nicht mehr sehen. Nur den Kussmund. Sie strich sanft