Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer
konnte ich am Abend Frau Neumeier die halbe Miete für den Oktober und gleich die ganze für den November bezahlen. Und eine Mark dazu für ein heißes Bad, das ich danach brauchte. Von dem Honorar blieb noch viel übrig. Wüsste sie vielleicht, wo man ein gebrauchtes Radio mit einem guten Klang und einen Plattenspieler her bekäme? Sie wolle Herrn Becker danach fragen, sagte Frau Neumeier, die heute eine graue Kittelschürze trug. Andere Mütter hätten auch schöne Töchter, meinte Klaus Beckstein, als er mich am Mittwoch abholte. Im Auto von Horst Krohn. Die Kornasow sei eigentlich seit längerer Zeit schon dessen Freundin. Bei der Probe tadelte mich Jean Christian. Verkrachte Liebesbeziehungen würden einem echten Musiker die Lust zur Musik nicht vermiesen. Sie würden ihn beflügeln, inspirieren, je größer das Liebesleid, desto mitreißender seine Musik. Ich kam mir aber wie gelähmt vor. Litt ich wegen Nina? War ich enttäuscht? Ich fühlte mich irgendwie Blue. Wie black and blue. Ach ja, warum nicht Fats Wallers Komposition Black And Blue? Die Trompete über dem getragenen Satz von Posaune und Saxophon. Das Stück hatte am Samstag so gefallen, dass wir es dreimal spielen mussten. What dit I do, to feel so black and blue… Nina war nicht in den Jatsskäher gekommen. Und Horst Krohn regierte das Lokal souverän von der Theke aus. Ich kannte ihn nicht anders. Nach dem Konzert begaben wir uns zu den Abschiedsbieren zu ihm hinauf. Alle Getränke gingen aufs Haus. Und da ich nun festes Mitglied der Jazzband sei, wäre ich auch am Umsatz beteiligt. Er schob mir dreißig Mark zu. Ich sah auch meine Freunde Geldscheine einstecken. Etwas verlegen, aber doch erfreut, nahm ich das Geld an mich. Mal ist es mehr, aber es war schon viel weniger, lachte Jürgen Hersfeld. Letzten Samstag hätte ich es, weil ich ein Gastmusiker war, nicht mitbekommen. Wir stießen die Biergläser aneinander. Meine Gehaltsabrechnung war mir am Freitag auf den Schreibtisch gelegt worden. Netto zweihundertsiebzig Mark für die vierzehn Tage. Nach der Einstellung bei Pfleiderer und Sohn hatte mir die Bank für Gemeinwirtschaft einen Brief geschickt. Wenn ich das Gehaltskonto bei ihnen eröffnete, würden Sie mir ein Startkapital von fünf Mark gutschreiben. Dieses Angebot hatte ich angenommen. Am Montag würde ich den Kontoauszug mit meinem ersten zivil verdienten Gehalt bekommen. Aber ich hatte mal wieder eine Freundin verloren. War sie überhaupt meine Freundin gewesen? Für einen Abend. Für eine Nacht. War es möglich, wollüstig zu sein, ohne zu lieben? Mit dem Jatss und der Arbeit kamen mir meine Zukunftsaussichten indes nicht so übel vor.
Gelegentlich traf ich Fräulein Schormann. Auf dem Weg zum Bad trug sie einmal ein dünnes Leibchen. Wir wechselten ein paar Worte. Wie geht’s. Bei einer Bewegung wellte sich der Stoff und gab einen Blick auf eine ihrer Brüste frei. Kleine Brüste. Ich benützte noch immer ihr Handtuch, wenn ich mich wusch oder mich badete. Sie schien es nicht zu merken. Bevor ich ein Radio kaufte, musste ich mir unbedingt ein paar Handtücher besorgen. Im Treppenhaus hatte sie einmal enge, röhrenförmige Hosen an. Sie erinnerten mich an Arbeiterkleidung, schienen in Mode zu kommen, besonders bei Leuten, die jünger als sie und ich waren.
Eines Abends lief ich Frau Grabowsky in die Arme. Eine kräftige Frau mit stämmigen Beinen in einem grauen Kleid. Sie hatte eine laute Stimme, und ich wunderte mich, sie noch nie gehört zu haben. Alle benützten die Küche, aber niemand putze sie richtig. Ob ich sie denn schon mal gereinigt hätte. Warum? Ich war nur einmal in der Küche gewesen, um beim Abtrocknen zu helfen. Sie schüt-telte missbilligend den Kopf. Ich konnte in mein Zimmer entkommen.
Die Tage wurden immer kürzer. Man ging im Dunkeln zur Arbeit und kam im Dunkeln zurück. Mitte November wurde der Nebel so dicht, dass Straßenbeleuchtung und Autoscheinwerfer ihn kaum durchdringen konnten und man als Fußgänger leicht die Orientierung verlor. Restaurants und Kneipen waren abends voller Menschen, und auch im Jatsskäher drängten sich viel mehr Leute als zuvor. Flaschen und Gläser mussten mit Rufen und Schubsen zu den Gästen balanciert werden. In dieser Nacht reichte Horst Krohn jedem von uns Musikern vierzig Mark über die Theke.
Der Mittwoch darauf war Buß- und Bettag, an dem keine Probe stattfinden sollte. Horst Krohn hatte stattdessen zu einer Party in seine Wohnung im Dachgeschoss des Hauses geladen, in dessen Keller wir den Jatss feierten. Jürgen Hersfeld holte mich mit seinem VW Käfer ab.
„Willkommen im Haus von ehemals ehrlich überzeugten Nazischweinen“, begrüßte er uns mit theatralischer Pose an seiner Wohnungstür. „Vor dem Geruch von Toten braucht ihr euch nicht zu ekeln. Frau Doktor Krohn und Herr Professor Krohn haben ihre Taten in Ravensburg vollbracht, alles für die Wissenschaft, nur unwertes Leben ist verschieden. Und die Überlebenden werden nun von ihnen mit Medikamenten gegen ihre leiblichen und seelischen Schmerzen behandelt. Ich darf das jeden Tag sagen. Ihr aber nicht, weil ihr sonst Ärger mit Anwälten bekommt, die auf solche Verleumdungen spezialisiert sind.“
Er führte ein Glas zum Mund und trank es leer. Whisky. Es war sicher nicht der erste heute Abend. Schwankend ging er voraus. Wir betraten eine geräumige, mit vielen kleinen Lampen beleuchtete Diele, deren Wände und Decke mit beige gestrichener Raufaser tapeziert waren. Grässliche Bilder hingen hier, verzerrte Gestalten mit schrecklichen Gesichtern, ähnlich wie in der Cantina Guernica, und einige plastische Werke aus Gips, grell mit Ölfarben beschmiert, Drahtnetze und Nägel und anderes Zeug darin eingear-arbeitet. Wenn das Kunst sein sollte…! Wir stiegen über die Beine eines jungen Mannes, der an der Wand gelehnt saß, ein Glas neben sich auf dem Boden. Alle anderen Partygäste befanden sich hinter dem Bogengang in einem großen, schwach beleuchteten Raum, dessen Decke der Giebel des Hauses war. Sie kauerten auf Kissen und niedrigen Bänken an den Wänden, Mädchen, Frauen, Jungen, Männer, und ich fragte mich, ob man am Gesicht oder am Körper erkennen könne, ob ein Mädchen Frau oder eine Frau Mädchen war und ob unter den Jungen, Männern, auch Jungmänner waren. Als Jungmann fühlte ich mich natürlich nicht, wegen der Brigach und des Grünen Baumes und – ach ja – des Teppichs an einem warmen Kachelofen. Das tat alles weh, aber es gab einem Sicherheit unter so vielen Fremden. Ein Junge, ein Mann, ein junger Mann stand aufrecht in der Mitte und trug etwas vor:
„An den Wintermond
Dein Licht trifft den Pfad
Mit silbernem Schein
Aus Dunkel erwacht Wald
Und möchte verzaubert sein.
Dein gütiges Mondgesicht scheint
Durch’s Geäst in die kalte Welt
Der Schnee dankt es mit Funkeln
Hinauf zum Himmelszelt.
Angeber! Du selbst leuchtest gar nicht
Bist nur aus totem Gestein
Und mein Bruder wird bald einmal
Über deine Nase gelaufen sein.
Doch zu spät ist’s für kluge Gedanken
Deine Magie hat mich gefangen
Dich hätt’ die Geliebte ja auch gesehen
Wäre sie nur an das Fenster gegangen.“
Von den Partygästen hörte man murmeln, vielleicht anerkennende Zustimmung, einige klatschten gar. Der junge Mann verbeugte sich und trat zur Seite. Eine Frau war auf einmal in der Mitte. Kein Mädchen. Eine Frau. Nicht ganz jung. Wo war Horst Krohn geblieben? Und Jürgen Hersfeld war auch irgendwo. Jemand reichte mir ein Glas mit einem komisch, säuerlich schmeckendem Getränk. Tequila mit Limonen, erfuhr ich. Die Frau hatte lange, dunkle Haare, runde Augen und eine scharfe Nase, was mich an eine Eule denken ließ. In dem Schummerlicht war nicht zu erkennen, wie alt sie war, zumal sie ihren Körper unter weit fallenden Stoffen und Wolle verbarg. Aber was sie mit dunkler Stimme nun vortrug, weckte erregende Fantasien:
„Frühling
Nackt wat ich den Bach stromauf
Auf glatten Steinen durch die Flut
Das munt’re Rauschen nimmt mich auf
Die linden Lüfte tun so gut
Die Sonne fühl ich auf der Haut
Und prickelnd kalt des Wassers Fließen
Der Erde Moder wird vertraut
Und überall lichtgrünes Sprießen.
Meine