Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer
in bestimmten Kreisen heimlich gespielt, besonders in Hamburg, aber auch in Berlin und sogar im behäbigen Stuttgart. Den Ragtime? Ach was – Chicagoer Swing! Die in Rahmen aufgehängten Bilder an den Wänden konnte ich im Zigarettenrauch und dem Licht nicht richtig erkennen. Alte Plakate von Jazzveranstaltugen in New Orleans, New York, St. Louis, Chicago, Hamburg… Ein Stuttgarter Malermeister habe sie gesammelt, auch in den Jahren zwischen1933 und 1945, und auch, als er an der Front war, erst im Westen, dann im Osten. Seine Tochter habe sie dem Jazzclub geschenkt.
Der Pianist war ein schlanker Kerl, der auf dem Hocker hin und her rutschte, als wäre unter ihm ein Ameisenhaufen. Er trug lange, braune Haare, die wie mit Lockenwicklern gedreht auf seine Schultern fielen. Wäre nicht ein dunkler Bart um Lippen und Kinn gewachsen, hätte ich ihn für eine Frau gehalten. Zum Ende des Stücks stand er auf und hämmerte in die Tasten wie auf ein Schlagzeug. Ragtime. Humpta – humpta. Nicht unbedingt mein Stil, in dem ich spielen wollte, mit kurzen Stößen aus der Trompete, was dem jungen, weißblonden Mann gut gelang, so gut, wie man Etüden an der Villinger Musikschule lernte. Er war mindestens einen Kopf größer als ich. Es gab starken Applaus. Auch ich klatschte natürlich. Wie hieß das Stück? Cornet Chop Suey. Ein gefühlsloser Phlegmatiker, den solch fröhliche Musik nicht ansteckte! Dummerweise war ich auf einmal nicht fröhlich. Wieso war mir jetzt Siegrid in den Sinn gekommen? Auf der Sommerwiese an der Brigach.
Als die Musiker ihre Instrumente abstellten, ging Nina mit meinem Koffer auf das Podium und sprach mit dem Pianisten. Der wandte sich mir zu und versuchte, mich aus dem hellen Licht heraus im Schein der Kerzen zu begutachten. Ein Frauengesicht mit Locken und einem Bart. Er hatte übergroße, dunkle Augen mit kräftigen Brauen. Bei seinem prüfenden Blick fühlte ich mich in meiner so unvermittelt aufgekommenen Trauerwollust durchschaut. Nina quatschte auf ihn ein. Er nickte mir zu. Sollte ich jetzt aufstehen und auf das Podium gehen. Nicht aufdringlich sein. Lieber noch warten. Er winkte mir zu. Wie hätte ich ahnen können, dass mein Leben mit dieser Geste ein ganz anderes werden würde. Ein ganz anderes.
Ich begab mich auf das Podium hinauf. Vom Hocker auf mich her-aufschauend sagte er: „Fräulein Kornasow meint, du könntest ganz gut mit dem Dschass.“
Fräulein Kornasow? „Nina?“ Das wusste sie doch gar nicht. Wieso sagte er Dschass und nicht Dschäss oder Jatss?
„Isch würde mich freuen, wenn es zuträfe, was deine Freundin gerade erzählt hat.“
Meine Freundin? Was hatte sie denn erzählt? Und was war das für ein Akzent?
Er stand auf. „Ich bin Jean Christian“, und ergriff meine Hand, „mit vollem Namen Jean Christian Viennois. Welches Stück möchtest du bei uns spielen?“
„Als erstes vielleicht etwas Langsameres, so im swingenden Bummelschritt. I Can’t Give You Anything But Love, habe ich gedacht. In B-Dur. Du müsstest ein paar Harmonien vorgeben, die Posaune und die Klarinette müssten sie übernehmen und halten und ich würde die Melodie darüber spielen. Dann bekommen Posaune, Klarinette und Piano ihr Solo, dann zusammen im Dixie auseinanderfallend und noch einmal in einer Kollektivimprovisation…“
„Wenn du hier spielst, müsstest du dich uns anpassen“, warf der Posaunist ein. Er war rundlich, schon etwas älter, so um die fünfzig herum, mit einer Glatze. Dabei grinste er freundlich. Er hieß Jürgen Hersfeld. Außer Posaunist sei er auch freier Dekorateur, erfuhr ich noch am Abend.
„Lass ihn“, winkte Jean Christian ab. „Er soll zeigen, was er kann.“
„Der Rhythmus müsste schwingender sein, eleganter, dschumm, dschumm, dschumm, nicht auf das Charlston schlagen, nur treten, und das Becken streichen, und erst bei der Kollektivimprovisation auf alles draufhauen…“
Der Schlagzeuger, ein schmales, blondes Kerlchen, schaute den Pianisten fragend an. Dieser nickte. „Das ist Klaus Beckstein“, wurde ich informiert.
„Und das nächste Stück?“ Der Bassist. Auch schon etwas älter, um die vierzig. Ein großer, massiger Mann mit schwarzen Haaren und schwarzem Vollbart. Ariel Joas. Er sei Maschinenbauingenieur ineiner Firma in Tailfingen, hörte ich dann beim Bier, und käme jedes Wochenende zum Jazz nach Stuttgart. Er würde im Laufe des Abends mit heiserer Stimme Bei mir bist du scheen singen, in jiddisch.
„Etwas Flottes. I’ve Found A New Baby. Von Anfang an gleich im Dixiedurcheinander. Danach vielleicht Big Butter And Egg Man? Ja? Und dann vielleicht Dans les rues d’Antibes.”
„Bist du ein Fan von Sidney Bechet?“
Ich lachte. „Auch. Aber mehr von dem Trompeter Teddy Buckner, der mal in seiner Band gespielt hat. Die beiden haben nicht gut zusammengepasst.“ Die anderen schauten mich fragend an. Vielleicht hatten sie von dem verkrachten Konzert noch nichts gehört. „Wenn ihr das Stück nicht kennt, versuchen wir ein anderes.“
„Ist in Ordnung. Das spielen wir.“ Der Klarinettist, Rüdiger Vollmer. Ein schlaksiger, junger Mann mit einer blonden Lockenmähne. Später würde ich mich manchmal über ihn ärgern. Wenn er sein Solo hatte, war er oft nicht zu bremsen und steigerte sich in immer wildere Läufe ohne Ende hinein. Wie Sidney Bechet.
„Das reicht jetzt“, meinte der Posaunist.
„Noch eines. Etwas Sentimentaleres. Some Of These Days. Zum Schluss. Und da sollten Klarinette und Posaune zunächst auch nur die Akkorde halten…”
Der andere Trompeter hatte sich ins Publikum zurückgezogen. Er hieß Peter Wegner und war sonst Angestellter in einer Firma, die Kühlschränke produzierte. An diesem Abend würde er nicht mehr spielen, und ich würde mich wundern, wie gelassen er es hinnahm.
Ich packte mein Instrument aus. Jean Christian wandte sich dem Klavier zu. Leicht glitten seine Finger über die Tasten, perlende Töne, ganz anders, als ich ihn bis jetzt gehört hatte, wie eine Harfe, von unten bis zu den hohen Tönen und wieder zurück, hin und her, ließ allmählich Dreiklänge einfließen, erst sacht, sanft, wie die schüchterne Annäherung eines Mannes an eine Frau, dann immer deutlicher, kräftiger, drängender, bis sie das Perlen beherrschten und die Klänge sich wehmütigen Harmonien und einem langsamen Rhythmus unterwarfen. Das war der Einsatz für Schlagzeug und Bass und dann, als man aus Rhythmus und Akkorden die Melodie erraten konnte, der Einsatz für Posaune und Klarinette, im Satz, gezogen, ich war begeistert, wie gut es klappte, und leistete mir eine winzige Verzögerung bei meinem ersten Ton, die Harmonien mussten mich einfangen, tragen, bis ich mit der Melodie über sie zu gleiten begann, I can’t give you anything but love, die Melodie mit der hellen Stimme meiner Trompete… Ich machte mein Timbre nicht mit den Fingern auf den Ventilen, sondern von hinten mit Luft und Lippen, konnte damit schnelle Schwingungen erzeugen wie ich sie von anderen so noch nicht gehört hatte, konnte Töne vibrierend zu scharfen Attacken wachsen oder aushauchen, sterben lassen. Ich spiele eine sentimentale Trompete, hatte eine Zeitung einmal geschrieben, eine andere, ich spiele mit einem melancholischen Timbre. Und es war angebracht bei dem Stück, Ich kann dir nichts als Liebe geben.
Der Klarinettist Rüdiger Vollmer wollte sich von Sentimentalität nicht einfangen lassen. Bei Beginn seines Solos spießte er mit hohen Tönen aus dem Holz die Pianoakkorde auf und verdoppelte den Rhythmus durch rasante Läufe mit gekonnter Betonung. Dem Schlagzeuger blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen und aus dem gefühlvollen Gleiten einen heißen Beat zu machen. Rüdiger quiekte, grunzte, pfiff auf der Klarinette in wilden Tonfolgen. Er war der Star in diesem Club und erntete nach seinem Spiel solch stürmischen Beifall, dass man Jürgens Posaune eine Weile gar nicht wahrnahm. Indes gelang es ihm, mit ruhig gezogener Improvisation wieder an den Herzschmerz von Nichts-als-Liebe-geben zurückzuführen. Er war mein Verbündeter, merkte ich da, mein Bruder, er hauchte die Posaune mit einem weichen Timbre. Am Ende seines Spiels zog er die Töne aus der Tiefe und leitete den Chorus des Pianisten ein.
Von Jean Christian war zunächst nicht viel zu hören im Applaus für die Posaune. Aber auch danach war das Piano kaum hörbar, schlich sich ganz allmählich in den Raum mit breiten Akkorden in ungewohnten Variationen, über die sich, auch nur ganz allmählich, eine Melodie entwickelte, von Dur in Moll und wieder in Dur, Nichts-als-Liebe-geben, mit perlenden Klängen, die zu einer Harfenorgie wurden,