Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer
machen? Das Klopfen an der Tür wurde eindringlich. Komm doch herein! Durch das Fenster fiel graues Licht. Hatte ich von Siegrid geträumt? Komm doch herein. Ich glaubte, meine Stimme gehört zu haben. Die Tür ging auf und Frau Neumeier trat ins Zimmer. Im marinefarbenen Hosenanzug. Das Kastanienhaar offen mit grauen Strähnen darin. Die fesche Olga. Der Kaffee, bitte schön. Der war heiß und bitter und süß und zwei Brötchen mit Butter und Erdbeermarmelade dazu. Ich kroch in die Federn zurück. Von Siegrid hatte ich nicht geträumt. Ich schloss die Augen. Und hatte sogleich Musik im Kopf. Ich spielte Negermusik mit Jimmy auf der Mundharmonika. In Grafenwöhr. Tief im Süden Dixies, Mein Herz erträgt es kaum, Da hängt meine Geliebte, An einem knorrig kahlen Baum… Jimmy war einer von denen, die die Atomsprengköpfe bewachten. So wie er aussah mit dunkler Haut und krausem Haar und rollenden Augen, und wie er sich immer fröhlich lachend gab, nannte ich ihn Sonnyboy. Und er hatte mir einmal gesagt, ich sei der einzige Mensch auf der Welt, der Sonnyboy zu ihm sagen dürfe. Allen anderen würde er ein Messer zwischen die Rippen rammen.
III Ein nettes Fräulein
Es klopfte, klopfte, klopfte und hörte nicht auf, Herr Kalisch, Herr Kalisch! Mitten in der Nacht. Das Licht ging an. Geblendet fuhr ich hoch. Sie hatten nicht abgeschlossen, Herr Kalisch. Ist auch nicht nötig. Ich bringe Ihnen das Frühstück. Sie wollen doch heute bei Pfleiderer anfangen. Es ist sechs Uhr. Sie sollten am ersten Tag früher aufstehen, um sich zu sammeln. Ich habe den Badeofen angeheizt. Ausnahmsweise. Sonst müssen Sie das selber machen und sich mit den anderen Mieter absprechen. Frau Neumeier in ihrem verblichenen Morgenmantel. Ich musste den ganzen Sonntag geschlafen haben. Sie war schon wieder verschwunden, als ich aus dem Bett taumelte. Mitten in der Nacht. Eine kalte Nacht. Im Bad war es warm. Ich rasierte mich und duschte. Mit heißem Wasser. Welch ein Luxus! Ich hätte danach zehn Brötchen verschlingen und zehn Tassen Kaffee trinken können. Wenn man hungrig bleibt, fällt man nicht in Träumereien oder in depressive Stimmung, man bleibt wach und neugierig. Ich zog den Anzug an, ganz neu aus grauem Flanell, und er würde hoffentlich in ein paar Minuten die Kofferknitter verlieren, und eines der beiden Hemden, bügelfrei, das blaue, das wirkte kaufmännisch gediegen, und eine blauweisrot gemusterte Krawatte dazu. Ich hatte versucht, die nassen Schuhe trocken zu reiben. Baumwollsocken und Körperwärme würden das Leder vollends trocknen. Als ich das Licht löschte, dämmerte der Tag herein.
Im Korridor stand Frau Neumeier. „So wie Sie heute aussehen, könnten Sie auch noch meinen Jahrgang verrückt machen“, lachte sie. Ich fühlte mich geschmeichelt und wuchs ein paar Zentimeter. Beschwingt stieg ich die vier Stockwerke hinunter. Im Hof empfing mich feuchter Nebel. Ein kleiner Junge in einer blauen Jacke kniete im Sandhaufen über Eisenbahnschienen. Er hielt eine Lokomotive in der Hand und schüttelte sie.
„Sie funktioniert nicht.“ Er stand auf und wandte sich mir zu. „Kannst du das reparieren?“
Sand klebte an den Knien seiner wollenen Strumpfhose. „Wie heißt du denn?“
„Ich bin der Walter.“ Er hielt mir die Lokomotive hin.
Ich ging in die Knie und betrachtete das Spielzeug von allen Seiten. Als ich es umdrehte, sah ich die Schraube sofort, die das Ablaufen der Feder blockierte. Wie war die da hineingekommen? Wo fehlte sie jetzt? Man müsste einen Schraubenzieher haben. Walter hatte ein Taschenmesser. Die Schraube fiel in den Sand, und das Federwerk setzte Räder in Bewegung. Der Junge stellte die Lokomotive auf die Geleise und ließ sie im Kreis um einen Hügel fahren. Wir müssen die Schraube suchen. Sie fehlt irgendwo. Dazu hatte er keine Zeit.
„Was hast du da am Hals hängen?“
„Meinen Hausschlüssel.“
„Wie alt bist du denn?“
„Sieben.“
„Wo ist deine Mutter?“
„In der Frühschicht.“
„Und dein Vater?“
„Der hat jetzt eine andere. Solch ein hergelaufenes, schamloses Flüchtlingsweib.“
„Musst du nicht in die Schule?“
„Au Backe!“
Er ließ von seinem Spielzeug. Mir war der Schulranzen gar nicht aufgefallen, der neben dem Sandhaufen lag. Der Junge schnappte ihn und hievte ihn auf seinen Rücken.
„Hast du ein Brot dabei?“
„Hab ich schon gegessen.“
Was ging mich der Junge an? Ich kramte ein Markstück hervor. „Für die große Pause.“
„Danke, auch für die Reparatur der Eisenbahn. Die ist uralt, weißt du. Vielleicht bekomme ich ja mal eine elektrische. Eine Trix oder gar eine Märklin. Aber du bist ja wirklich nett, wie Fräulein Karin, die ist auch ganz nett, sie schenkt mir manchmal einen Apfel oder eine Tüte mit Zwetschgen…“
Wirklich nett, von einem Jungen mit einem Fräulein Karin verglichen zu werden. Ich hatte genügend Zeit und bummelte gemütlich die Rote Waldstraße hinauf zur Eisenbahnunterführung. Dahinter entdeckte ich gleich die Fabrikgebäude von Pfleiderer & Sohn, Elektrogeräte KG. Der Pförtner war ein einarmiger, älterer Herr, der mich misstrauisch beäugte, bevor er mir das Einladungsschreiben der Firma aus der Hand nahm. Er griff zum Telefon und nuschelte etwas hinein, was ich nicht verstand. Danach nuschelte er mir zu. Ich begriff ungefähr, einen Gang entlang gehen zu müssen, dann zwei Treppen hinauf, wieder einen Gang, und dann ins Zimmer drei. Später habe ich erfahren, dass der Pförtner auch die Telefonzentrale bediente, und alle Mitarbeiter der Firma sich fragten, wie Kunden und Lieferanten mit seiner Aussprache zurechtkamen. Ich klopfte an der Zimmertür drei. Nach dem Herein einer weiblichen Stimme blickte ich auf einen Eckschreibtisch mit einer Telefonanlage und einer Schreibmaschine, dahinter ein Fräulein mit blonden Locken um ein rosiges Gesicht. Das war Fräulein Hertel, die Sekretärin. Sie wies auf einen Stuhl und bat mich, etwas zu warten. Im Ausschnitt ihrer Rüschenbluse lugten zwei rosige Bällchen hervor. Deretwegen wäre ich lieber stehen geblieben. Aber das wäre unhöflich gewesen. Also wartete ich mit Blick auf Locken und Telefonkabel, und auf die beiden spitzen Pumps, die sich unter der Blende am Schreibtisch hervorschoben, bis Herr Direktor Allgäuer mich bitten ließ.
Wer sich einen Direktor eines erfolgreichen Industriebetriebes im Wirtschaftswunderland groß, korpulent mit glänzendem Gesicht und einer Glatze vorstellt, wurde beim Anblick des Direktors Allgäuer nicht enttäuscht. Er kam breit lachend, ein rosiges Gesicht wie seine Sekretärin, hinter seinem mächtigen Schreibtisch hervorgeschnellt, um mir die Hand zu schütteln. Ziemlich kräftig zu schütteln. Er war Leiter des Rechnungswesens und Personalchef. Sein Anzug sah zerknittert aus. Ihm würden die falschen Falten in meinem nicht auffallen. Dr. Pfleiderer junior könne mich nicht persönlich begrüßen. Er befände sich auf einer Geschäftsreise in den Vereinigten Staaten. Das klang irgendwie stolz. „So wünsche ich Ihnen ein herzliches Willkommen bei der Pfleiderer & Sohn Elektrogeräte KG. Wir produzieren Radiatoren, Ventilatoren, Heizgebläse, Kühlgebläse, Klimaanlagen für Großraumbüros, Banken, Kaufhäuser und Fabrikationshallen… Sie waren vor Ih-rem Wehrdienst in der Lohnabrechnung tätig und haben sich nun für unsere Nachkalkulation beworben. Eine ganz wichtige Aufgabe. Sonst wüssten wir ja nicht, mit welcher Anlage wir etwas verdient haben, ha, ha, ha… Das Gymnasium abgebrochen ohne Abitur. In der Berufsschule waren Sie in Buchhaltung und im Kaufmännischen Rechnen auch nicht gerade der beste. Ist nicht so schlimm. Wir werden eh alles auf Hollerith umstellen im nächsten Jahr. Da rechnen und buchen dann die Maschinen, ha, ha, ha. Englisch und Französisch haben Sie gelernt. Das kann man immer mal brauchen. Hier schreiben Sie, dass Sie auch Spanisch gelernt hätten, in der Volkshochschule. Ja, warum das denn?“
„Ja, also… Mein Zahnarzt war Chilene, und der spielte bei uns manchmal die Bongos, und…“
„Ist ja auch egal. Wenn Sie mal an der Costa Brava Urlaub machen, können Sie sich dort etwas Ordentliches zum Essen bestellen, ha, ha, ha…“
Ich wurde eingestellt. In einer Wirtschaftszeitung hatte ich mal gelesen, die deutschen Unternehmen würden Personal horten.