Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer

Das melancholische Timbre - Dietmar H. Melzer


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krib­belig werden. Ich rempelte eine kleine Person an. Entschuldigung. Eine alte Frau. Ich sah zuerst nur ein geblümtes Kopftuch von ihr. Ich muss auf den Zug nach Hamburg! Dann gehen Sie auf den Bahnsteig neun. Ja, ja. Aber ich sehe nicht mehr so richtig. Die Frau hatte in jeder Hand einen Koffer. Wie sollte ich ihr Gepäck mit dem meinen dazu auf ihren Bahnsteig schleppen? Meine Kof­fer können Sie mich ruhig tragen lassen, junger Mann. Ich meinte, Spott in ihrer Stimme zu hören. Führen Sie mich nur bis zu mei­nem Zug, bitte. Das war nicht weit. Und ich hatte ja Zeit. Ein weiß gekleideter Mann mit einem Bauchladen drängelte sich vorbei. Leibnitz Keks, Tabak, Zigaretten, schrie er. Dann stand ich ziemlich verwirrt an der Treppe zum Arnulf-Klett-Platz hinunter. Die alte Frau hatte mich zum Abschied geküsst, aus Dankbarkeit vielleicht, hatte meinen Kopf zu sich hinabgezogen, hatte ihre Zungenspitze flüchtig in meinen Mund gleiten lassen, und ich hatte gemerkt, dass sie nicht so alt war. Meine Kopfschmerzen fielen mir jetzt wieder ein. An der Sperre hatte mir ein mürrischer Beamter meine Fahrkarte abgenommen. Ich versuchte, mit festen Schritten die Stufen zu den Straßenbahnen hinunter zu kommen. Mein vorher trockener Mund fühlte sich nun aber weich und fließend an. Die Zungenspitze einer alten Frau mit einem Kopftuch, die gar nicht so alt war… Sie haben zu viel Alkohol getrunken, junger Mann, und – geben Sie das Rauchen auf!

      Draußen nieselte dünner Regen herab. Den lärmenden Verkehr von Autos und Straßenbahnen, die eilenden Menschen, die vielen Lichter und grellen Neonreklamen, die sich in den nassen Straßen spiegelten, war ich nicht gewohnt. Ich wusste nicht, wohin ich sollte. Unschlüssig trottete ich an den Sandsteinmauern des Bahn­hofsgebäudes entlang bis ich auf eine breite Straße mit noch mehr Verkehr stieß, die aus der Stadt hinaus zu führen schien. Der Kof­fer und die Tasche wurden mir schwer, und in den Nacken rieselte kaltes Nass. Ich kehrte um. Ein Polizist stand an den Stufen zu den Bahnsteigen hinauf. Wie komme ich in die Rötestraße, bitte schön? Fahren Sie mit der Einser oder mit der Sechser bis zur Station Schwabstraße. Dann die nächste Straße rechts. Vielen Dank, Herr Wachtmeister. Der Polizist wies mit seinem Gesicht auf eine Fuß­gängerampel, die gerade Grün anzeigte. Ich ging über den Zebra­streifen auf die Haltestelle der Straßenbahn zu. Weiter auf der an­deren Seite sah ich die leuchtende Reklame eines preiswerten Schnellrestaurants. Da merkte ich, dass ich hungrig war. Wohl hatte ich etwas gegessen, Würstchen mit Kartoffelsalat, bevor wir meinen Abschied in den Nachmittag hinein begossen hatten, doch meinte ich beim Anblick des strahlenden Glasbildes, auf dem ein saftiges Kotelett und goldene Bratkartoffeln mit knusprig braun ge­rösteten Rändern zu sehen waren, wochenlang nicht mehr richtig gefuttert zu haben. Ich überquerte die Straßenbahnschienen und die andere Fahrbahn. „Nur drei Mark fünfundneunzig“ war auf dem Bild zu lesen. Es war preiswert, auch wenn noch zehn Prozent Be­dienung hinzukämen. Ich trank zwei Biere dazu. Königliches Hof­bräu nannte sich der Gerstensaft mit einer verschnörkelten Krone auf den Gläsern. Der Geschmack des vergangenen Königs war Ga­rant für die Bekömmlichkeit des Bieres. Der hatte ja so viel davon trinken und dazu essen können wie er wollte, hatte er doch seinen Wohlstand bei den Bauern eingetrieben, gleich, ob die danach noch etwas zu trinken und etwas zu knabbern hatten. Eigentlich konnte ich mir das Kotelett und die beiden Biere nicht leisten. Fünf Mark fünfundvierzig zusammen. Die Franzosen hatten ihren König nach ihrer großen Revolution geköpft. Deutsche machten so etwas nicht, unschuldige Könige köpfen. Die ließen nur russische Kriegsgefangene verhungern und verbrannten jüdische Nachbarn, die am Elend dieser Welt schuldig waren. Unser demokratisch ge­wählter Ministerpräsident verbeugte sich artig vor den Nachfahren des abgesetzten württembergischen Königs, wegen derer unschätz­baren Verdienste für das Land, unschätzbaren Verdienste durch das Land. Sie residierten in schönen Schlössern und das Familien­oberhaupt, von Gottes Gnaden, ließ sich noch immer mit Eure Majestät anreden. Auch von unserem Ministerpräsidenten, der ein aufrechter Patriot war, hatte er doch bis zum letzten Tag des Krie­ges versprengte Soldaten als feige Deserteure hinrichten lassen. Ich hatte ihn einmal in einem Dreihunderter Mercedes auf dem Ro­mäusring gesehen, als er von einer kurzen Visite im Rathaus unter Beifall des Volkes zu einem fetten Bankett ins Donaueschinger Schloss unterwegs war.

      Indes war ich von dem Kotelett und der Portion Bratkartof­feln nicht satt. Sechs Mark mit Bedienung. Nachdem der Kellner abge­rechnet hatte, besaß ich noch Zweiundfünfzig Mark und fünfund­vierzig Pfennig. Das würde mir nicht bis zum Monatsende reichen. Ich hätte doch etwas Geld von meiner Mutter borgen sollen. Als ich aufstand, konnte ich einen Blick auf den Fernseher werfen, der hinter mir die ganze Zeit gequäkt hatte. Unser Bundeskanzler war zurückgetreten, scheinbar auf Drängen des Koalitionspartners. Ich verharrte einen Augenblick und sah Bilder eines alten Mannes, in einem Zug nach Moskau, um deutsche Kriegsgefangene zu be­freien, und dann neben einem jugendlichen, amerikanischen Präsi­denten, der in eine jubelnde Menge rief: „Ich bin ein Berliner!“ Ei­nem Kanzler, der vorher von den Nazis verhaftet und in ein Kon­zentrationslager verschleppt worden war, hätte man noch länger vertrauen sollen.

      Draußen schlug ich fröstelnd den Mantelkragen hoch und tappte, von den Bieren wieder betrunken, auf die Haltestelle zu. Der Ein­ser oder der Sechser. Ich hielt dem Schaffner einen Fünfmark­schein hin, der mir gerade in die Hand kam. Haben Sie es nicht kleiner? Ich hob die Schultern. Die Königstraße war in ein Meer aus bunten Reklamelichtern getaucht. Unzählige Passanten waren im Nieselregen unterwegs. Immer wieder überquerten sie sorglos die Fahrbahn, trotz hupender Autos und dem Geklingel der Stra­ßenbahn. Eine pulsierende, schwäbische Metropole. Es fiel kaum auf, dass die Läden hinter den leuchtenden Neonröhren vielfach nur einstöckige Provisorien waren, manchmal nicht viel mehr als eine Baracke. Immerhin fuhr die Straßenbahn an vielen Baustellen vorbei. Es würde aber Jahrzehnte dauern, bis die Stadt nach den Bombenangriffen wieder aufgebaut war. Und ob das einen Sinn hatte? Ich war vor vierzehn Tagen als Gefreiter aus dem Wehr­dienst entlassen worden. Die Bundeswehr sollte abschrecken, ei­nen weiteren Krieg verhindern. Nun hätte man Stuttgart mit einer einzigen Bombe zerstören können, und zwar so gründlich, dass niemand mehr eine Straße fand, um dort provisorische Läden zu errichten.

      Der Schaffner rief die Haltestelle Schwabstraße aus. Ich griff nach meinem Gepäck und stolperte in die Dunkelheit. Von funkelnder Reklame war hier nichts mehr zu sehen. Meine Augen gewöhnten sich aber bald an das diffuse Licht der städtischen Straßenbe­leuchtung. Mein Ziel lag in der nächsten Straße rechts. Eine schmale Straße. Sie schien mir noch dunkler zu sein. Selbst das Licht aus einer Kneipe war abweisend. Junge Leute traten heraus. Offenbar betrunken. Sie schwatzten laut durcheinander, kicherten und johlten, Männer und Frauen. Eine trat mir in den Weg. Schaut euch diesen Frosch hier an. Der kommt von einer großen Reise. Sie lachte gurrend. Im Licht der Kneipe wirkten ihr Gesicht und ihre glatten, langen Haare gleichmäßig elfenbeinfarbig. Der grell­rot geschminkte Mund, aus dem das Gurren kam, sprang ei­nen re­gelrecht an. Mir war kalt in meinem nassen Mantel, und ich wun­derte mich, dass das Mädchen vor mir nicht fror in ihrem schulter­freien Fetzen. Auch ihren Freunden in recht sommerlichem Aufzug schien das kalte Oktoberrieseln nichts auszumachen.

      „Ich möchte zu Frau Neumeier“, sagte ich. „Im Dunkeln kann man die Hausnummern nicht sehen.“

      „Die fesche Olga? Sie vermietet Zimmer, gell?“

      Ihre Lippen bewegten sich durch den Alkohol schwerfällig, wenn sie sprach. Aber das anschließende Gurren konnte ei­nen anmachen, auch wenn man müde war. Theatralisch drehte sich die junge Frau um und zeigte, dass an ihren Körperformen an keiner Seite etwas auszusetzen war. Sie würde wohl überall unter der Wäsche elfen­beinfarbig sein.

      „Geh auf dieser Seite einfach weiter. Da kommt dann ein Haus mit einem größeren Tor. Da musst du rein.“

      Sie drehte sich wieder zu mir.

      „Wenn du bei Olga wohnst, werden wir uns wieder mal über den Weg laufen.“ In ihren Haaren und auf ihren nackten Schultern be­gann das Nieseln zu glänzen. Ihr musste doch kalt sein.

      „Wie heißt du denn?“

      „Nina, und du?“

      Ich nannte meinen Namen. Was sie an dieser trüben Tasse denn finde, rumorte der Protest unter ihren Freunden. Wenn sie nicht gleich losfuhren, wäre der Jazz mangels Publikum zu Ende. Die Funzel da verstünde sowieso nichts davon. Ich hörte das Wort Jazz, nicht „Dschäss“ gesprochen, sondern „Jatss“, wie bei schwä­bischen


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