Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer

Das melancholische Timbre - Dietmar H. Melzer


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netto etwa fünfhundertvierzig Mark. Das war nicht schlecht. Man wollte mir den heutigen Tag als vollen Arbeitstag anrechnen. Herr Direktor Allgäuer führte mich einen Stock tiefer durch einen Gang, links und rechts hinter Glas fleißige Frauen und Männer an Schreibtischen, in eines dieser Büros zu einem rundli­chen Herrn mit langen, silbernen Haaren, zu Herrn Burian, dem Leiter der Nachkalkulation. Ich war nicht passend gekleidet. Die Angestellten in diesem Büro trugen weiße Arbeitskittel. Mit mir waren es sechs in diesem Raum. Herr Burian wies mir freundlich einen von zwei freien Schreibtischen zu. Er sprach mit weichem, böhmischen Akzent. Ich bekam von einem der neuen Kollegen zwei Rechenmaschinen auf den Schreibtisch gestellt, eine mit einer Kurbel für Multiplikationen und Divisionen und eine mit einer Zehnertastatur und einem Papierstreifen für Additionen und Sub­traktionen, und einen Karton voller Lohnzettel dazu. Die sollte ich durchsehen, sollte sie nachrechnen, falls mir auffiel, dass etwas nicht stimmen konnte, wenn zum Beispiel die Sollzeit viel höher war als die tatsächlich verbrauchte Zeit, war der Lohn zu hoch. Ab hundertdreißig Prozent musste ich es gesondert notieren, damit der Refamann den Arbeitsgang untersuchte und gegebenenfalls die Vorgabe reduzierte. Sonst verdienten die Akkordarbeiter zu viel. Es hing also von mir ab, ob man ihnen das Einkommen kürzte. Zeiten und Löhne, die geplanten und die tatsächlichen, hatte ich dann je Auftrag zu addieren und die Ergebnisse an Herrn Burian zu reichen, der von den Kollegen die anderen geplanten und angefal­lenen Kosten, Rohmaterial und Teile, zugeleitet bekam. Das würde nächstes Jahr alles wegfallen, erläuterte Herr Burian bei Gelegen­heit. Man würde alle Daten auf Lochkarten sammeln und in Holle­rithmaschinen einlesen, man würde alle Informationen automatisch auf Listen gedruckt bekommen. In der Buchhaltung habe sich das System bereits bewährt. Bald könnte dort die Mahnabteilung weg­fallen, weil die Maschine merkte, wenn ein Kunde in Verzug war und automatisch die Mahnung erstellte. Meine Arbeit begann um halb acht und endete um halb sechs. Samstags und sonntags hatte ich frei. Von zwölf bis eins war Mittagspause. In der Kantine kos­tete das Essen zwei Mark. An meinem ersten Arbeitstag gab es eine Gemüsebouillon, Kassler Ripple mit Sauerkraut und Püree und einen Apfelkompott. Die Portionen waren für Schwerarbeiter gedacht. Beim ersten Mittagessen aß ich alles auf. Ich kam mit ei­nem Kollegen von der Auftragsbearbeitung ins Gespräch und er­fuhr, dass in der Nähe meiner Wohnung ein Konsum Laden war. Sie bedienten auch Kunden, die nicht in der Gewerkschaft waren. Die Preise dort wären günstig, und am Ende des Jahres bekäme man eine Vergütung auf den Umsatz.

      Auf dem Heimweg am Abend versuchte ich auszurechnen, ob ich, bei diesem Lohn und den Kosten für ein Mittagessen, bald ein ge­brauchtes Auto anzahlen konnte, einen VW Käfer oder einen Ka­dett. Zunächst aber musste ich ein ordentliches Radio und einen Plattenspieler haben. Im Licht der Hofbeleuchtung stieß ich auf Walter. An seine Lokomotive hatte er nun einen Personenwaggon gehängt.

      „Es ist dunkel. Müsstest du nicht längst zu Hause sein?“

      „Ja, schon. Herr Becker hat mir den Waggon besorgt, und den wollt ich geschwind probieren. Er will auch noch nach weiteren Schienen schauen. Ach, heute gings mir ja gut, beim Schulbeck ei­nen Wurstwecken, mit der Mark komme ich eine ganze Woche aus, und das nette Fräulein Karin hat mir auch noch Weintrauben geschenkt.“

      „Wer ist denn das nette Fräulein?“

      „Na, die da oben, im vierten Stock. Könnst dich in sie verlie­ben.“

      „Das will ich mal versuchen.“ Ich musste lachen. „Pack jetzt deine Sachen und geh nach Hause, bevor dich die Nachtgespenster ho­len!“

      „Nachtgespenster? So’n Blödsinn. Es gibt gar keine Gespenster.“

      Bei den Lohnscheinen waren sehr viele dabei, die einen höheren Lohn auswiesen als den vorgegebenen, und darunter auch viele, welche die erlaubten hundertdreißig Prozent überschritten. Musste ich wirklich geschickten Akkordarbeiterinnen und Akkordarbei­tern, die cleverer als die Refaleute waren, den gerechten Verdienst kürzen? Wenn ich alle übersähe, würde mein Vorgesetzter es mer­ken. Jeden zweiten zu übersehen, wäre ungerecht, und möglicher­weise würde eine anständige, ehrliche Haut weniger bekommen und… Ich könnte alle Frauen durchgehen lassen, die verdienten sowieso zu wenig. Aber man sah es der Personalnummer nicht an, ob Frau oder Mann, und ich wusste noch nicht, in welcher Monta­geabteilung Frauen und in welcher Männer arbeiteten. Indes würde ich dann schwer arbeitenden Männern das Einkommen schmälern, die Ehefrau und zwei Kinder zu ernähren hatten. Ein Kollege musste gemerkt haben, wie ich zögerte. Er trat hinter mich. Alle haben die gleichen Bedenken wie Sie, wenn sie die Lohnscheine kontrollieren, raunte er mir zu. Herr Burian rechnet nach und wird Sie rügen, wenn Sie welche übersehen. Und wenn es wiederholt geschieht, wird er Ihnen Vorsatz unterstellen und Schadenersatz verlangen. Überlassen Sie es lieber der Gewerkschaft, sich mit der Refa herumzuschlagen.

      Das Frühstück von Frau Neumeier und die Mahlzeiten in der Kan­tine reichten mir zum Leben. Ein Abendbrot brauchte ich eigent-lich nicht. Die Kneipe, aus der ich an meinem ersten Abend in die­ser Stadt die schöne Nina heraustreten gesehen hatte, nannte sich Cantina Guernica, Sie war ein langer Raum mit einer genauso lan­gen Bar auf der linken Seite mit hohen Hockern davor. Rechts standen eine Reihe Tische an der Wand, die mit einem ungewöhn­lichen Bild bemalt war, fliehende, sich windende, vor Entsetzen schreiende Menschen, ein Pferd, das Maul aufgerissen voller Qual, darüber ein unbeteiligt scheinender Stier und eine fliegende Frau­engestalt mit einer Leuchte. Der Wirt erklärte, das Bild sei die un­gefähre Kopie eines Werkes von Picasso, ein Freund, Horst Krohn, habe es an die Wand gemalt, hätte es ganz gut getroffen, jeder wüsste hier sofort, was mit Menschen im Krieg geschieht, hier das Beispiel, als die deutsche Luftwaffe Guernica bombardierte, es sei bestimmt auch so in Stuttgart gewesen… Der Wirt hatte einen un­gewohnten Akzent. Er bildete seine Worte irgendwie ganz vorne im Mund und ließ dabei das R polternd herausstolpern und das S ähnlich wie ein englisches Th lispeln.

      „Guernica?“

      „Eine baskische Stadt östlich von Bilbao. Ich bin von dort.“

      Aus Spanien? Groß und blond wie er war, sah er nicht so aus, wie man sich einen Spanier vorstellt. Und sein Name klang auch nicht gerade spanisch, Iker Etscheberria. Ich fragte ihn, warum er aus dem sonnigen Spanien ins verregnete Stuttgart gekommen sei, um hier eine Bar aufzumachen. Der Wirt begann zu lachen.

      „Guernica liegt im Norden ganz nah am Atlantik, und dort regnet es doppelt so viel wie in Stuttgart. Die meisten Häuser haben keine richtige Heizung, einen Kamin vielleicht oder einen Gasofen, der ein Gitterrost zum Glühen bringt. Ein halbes Jahr frierst du und ein halbes Jahr hast du Rheuma.“ Er wurde ernst. „Aber ich bin nicht deswegen von dort abgehauen. Franco mag unsere Sprache nicht, obwohl sie im Baskenland schon mindestens siebentausend Jahre gesprochen wird. Wer Baskisch spricht, wird beschuldigt, ein Staatsfeind zu sein, der das Baskenland von Spanien lösen will. Ein schweres Verbrechen. Und ich wurde zudem verdächtigt, mit subversiven Komplizen ein Polizeiauto mit vier Beamten in Bilbao in die Luft gesprengt zu haben.“

      „Und?“

      „Natürlich will ich die Unabhängigkeit der Basken, unser Euskadi, damit wir unsere Sprache Euskera und unsere Kultur behalten. Nach dem Ende des Königreiches von Pamplona hatten alle spani­schen Landesherren an der Heiligen Ei­che in Guernica geschwo­ren, unsere Eigenständigkeit zu respektieren. Nur Franco nicht. Die Deutschen glaubten mir, nichts mit der Bombe in Bilbao zu tun zu haben. Ich bekam hier Asyl.“

      Von Basken wusste ich bisher nur, dass es bei ihnen eine beson­dere Form von Mützen gab, die mein Französischlehrer gerne auf­hatte, sonst aber vornehmlich von Franzosen getragen wurden. Mir fiel ein, während der Kubakrise erwogen zu haben, mich im Fall eines Krieges nach Spanien abzusetzen. Was hätten ihrer Regie­rung treu dienende Beamte mit einem desertierten deutschen Sol­daten angefangen? Wenn schon die Basken Schwierigkeiten nur wegen einer eigenen Sprache hatten. Nur das mit der Bombe. Sah der große, blonde Wirt so aus, als könnte er Polizisten ermorden?

      „In einem Francogefängnis hätte ich auch zugegeben, die Heilige Jungfrau vergewaltigt zu haben.“ Er deutete auf die Wand. „Bom­ben lösen nichts. Sie töten nur. Und dass Alexander der Große den Gordischen Knoten mit dem Schwert gelöst hätte, ist eine Erfin­dung antiker Faschisten.“

      Picasso hatte auch viele nackte Frauen


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