Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer
Mal mit.“
Am Straßenrand liefen längst die Motoren von zwei Wagen, einem alten Opel Kapitän mit dem schrägen Rücken und einer immer noch elegant wirkenden Isabella. Diese Nina stieg in den Opel mit ein, und die beiden Wagen fuhren die Straße hinauf davon. Mich packte die Müdigkeit wieder. Erst jetzt merkte ich, dass ich mein Gepäck abgestellt hatte. Ich griff danach und schleppte mich und meinen Besitz in die angegebene Richtung, an Mauern entlang, die durch Licht aus den Fenstern alle dunkel zu sein schienen. Aus einem Fenster drang laute Radiomusik. In Hamburg sind die Nächte lang… An dem Tor konnte ich keine Namensschilder finden. Also drückte ich die schwere Klinke herunter und schob das Tor auf. Ein finsterer Gang befand sich dahinter. Etwas glimmte an einer Seite. Ein Lichtschalter. Der Gang führte in einen Hof, der durch meinen Druck auf den Schalter in elektrisches Licht getaucht wurde. Auf der einen Seite standen zwei Fahrräder und ein paar Mülleimer. Auf der anderen Seite sah ich einen Sandhaufen und einen Berg von Kieselsteinen. Sonnenlicht fiele sicher nie in diesen Hof. Am anderen Ende befand sich eine Haustür. Sie musste ganz neu sein. Dickes Glas in einem soliden Holzrahmen. Hier fand ich auch die Namensschilder. Gedruckt und ordentlich aufgereiht hinter Metall und Plexiglas und beleuchtet. Ich tippte auf den Knopf hinter Neumeier. Es dauerte eine Weile bis sich ein Fenster oben öffnete. Wer ist da?
Eine krächzende Frauenstimme. Die hörte sich zunächst nicht sympathisch an. Ich rief hinauf, wer ich war und wies auf Briefe hin, die gewechselt worden waren, wegen eines Zimmers…
„Und da kommen Sie mitten in der Nacht!“
„Ich konnte vorher keinen Zug nehmen, und dann habe ich noch Hunger gehabt, am Bahnhof…“
„Ja, ja, kommen Sie herauf! In den vierten Stock!“
Der Türöffner summte. Ich trat in einen braun gefliesten Flur, an jeder Seite eine Wohnungstür, an der Treppe zu den oberen Stockwerken stapelten sich Kartons mit Keramikfliesen und staubige Papiersäcke, die wohl Zement oder so was enthielten. Vier Stockwerke mache ich sonst im Dauerlauf, auch mit Gepäck, aber die Etagen waren hier höher als im sozialen Wohnungsbau, und ich war so müde. Atemlos kam ich oben an. In einer offenen Glastür erwartete mich eine Frau in einem blassblau verblichenen Mor-genmantel mit blassrot verblichenen Blüten bedruckt. Ihr kastanienfarbenes Haar, vielleicht auch schon graue Strähnen darin, war zu einem Knoten gebunden, was dem schmalen, faltigen Gesicht mit den dünnen Lippen trotz der schlampigen Kleidung ein strenges Aussehen gab. Ob das die fesche Olga war?
„Sie sind also der Herr Kalisch.“ In ihrem Blick meinte ich, Herablassung zu spüren. „In bester Kondition sind Sie ja nicht gerade.“ Sie öffnete den Mund zu einem breiten Lachen und zeigte überraschend schöne Zähne dabei. Bei Frauen, die Nächte in Luftschutzkellern verbracht hatten, konnte man nie schätzen, wie alt sie waren. Eine Dreißigjährige sah möglicherweise wie eine Sechzigjährige aus. „Wohl gesoffen unterwegs.“ Sie winkte mich herein. „Ich bin Frau Olga Neumeier.“
Ich betrat honigfarbenen Parkettboten eines geräumigen Korridors mit bläulichgrau gesprenkelter Tapete an den Wänden und weiß gestrichenen Türrahmen. Die Türen waren alle verschlossen. Sie öffnete eine und wies hinein. „Die Küche, die alle Untermieter auf diesem Stock benutzen.“ Die Stimme etwas gedämpft. „Sie schlafen schon alle.“ Eine andere Tür wurde von ihr geöffnet, die Toilette, und eine weitere. „Das Bad für die Untermieter. Sie müssen sich abstimmen.“
„Könnte ich heute Abend noch baden?“
„Sie meinen heute Nacht. Das wird die anderen stören. Mit kaltem Wasser, wenn Sie wollen. Sonst müssen Sie den Badeofen anheizen, also vorher Holz und Kohlen herauftragen. Das geht um diese Zeit nicht. Für warmes Badewasser berechne ich einen Zuschlag von einer Mark auf die Miete. Wenn Sie mir sagen, wie oft Sie warm baden wollen, können wir es pauschal regeln.“ Sie deutete auf eine Tür mit einem Knauf anstatt der Klinke, wie bei allen anderen Türen: „Meine Wohnung. Sonst wohnen auf dieser Etage Frau Grabowsky, Herr Bovensipen, der ist aber meist auf Montage, und das Fräulein Schormann, aus Thüringen, hat sie mal erzählt, und Herr Becker, schon seit fünfundvierzig, nachdem wir das gröbste aufgeräumt hatten…“ Sie öffnete eine weitere Tür. „Ihr Zimmer.“ Sie knipste den Lichtschalter an. Ich blickte auf Wände mit heller Blümchentapete, auf dunkel gebeizten Holzfußboden,auf grell geblümte Gardinen und ein Fenster, das wohl auf den Hof hinausging. Darunter standen ein dunkelbrauner Holztisch ohne Tischdecke und zwei dunkelbraune Stühle mit geflochtenen Sitzen, an der linken Wand befand sich ein solide aussehendes Bett, ebenfalls dunkelbraun, mit schneeweißer Bettwäsche, Kopfkissen und das Federbett ordentlich aufgetürmt mit einem Knick, eine Kieferkommode daneben, gegenüber stand ein jugendstilartig verzierter Kleiderschrank, auch dunkelbraun, im rechten Eck sah ich einen gusseisernen Kohleofen. „Sechzig Mark im Monat, wie ich Ihnen bereits geschrieben habe. Etwas Preiswerteres werden Sie in Stuttgart nicht finden. Die Kohle berechne ich Ihnen extra. Manche frieren leicht, andere nicht…“
„In Ordnung.“
„Für die vierzehn Tage Oktober bekomme ich von Ihnen jetzt dreißig Mark.“
„Könnte ich Ihnen das Geld am Ende des Monats geben?“
„Miete ist immer im Voraus fällig.“
„Ausnahmsweise… Ich meine, es würde mir helfen in der fremden Stadt… Wenn ich Ihnen am Ende des Monats… Und dann auch gleich die Miete für den November…“
Sie betrachtete mich von oben bis unten, meine nassen Haare, den nicht ganz neuen Mantel, die von Eisenbahn und Regen verbeulte graue Hose ohne Bügelfalte, meine feuchten Schuhe, die Schmutz auf dem schönen Parkettboden hinterlassen hatten. Ihr Blick blieb durchdringend auf meinem Gesicht haften, zu dieser Stunde war ich nicht frisch rasiert… „Wie ein Betrüger sehen Sie nicht aus“, murmelte sie, „und Ihr Brief und Ihre Schrift waren ordentlich. Wenn Sie bei Pfleiderer anfangen, sparen Sie das Fahrgeld, Sie kommen zu Fuß von hier aus in die Fabrik. Wissen Sie, ich brauche dringend die Einnahmen aus der Miete, es hat viel Geld gekostet, alles wieder instand zu setzen und dann zu modernisieren, alles nur mit Schulden, und die Bank…“ Sie schwieg eine Weile. „Bezahlen Sie mir die Miete also am 31. Oktober“, sagte sie wieder etwas lauter.
„Danke. Das hilft mir sehr.“
„Ach ja, bevor ich es vergesse. Sie schrieben von einem Musikin-strument, das sie spielen und jeden Tag üben wollten. Mein Mann ist Posaunist gewesen in der Kräherwaldgarde. An einem Sonntag haben sie sogar im Schlossgarten gespielt. Deswegen. Man hat eigentlich immer Ärger… Also… Sie dürfen nie länger als eine Stunde üben und nie vor neun Uhr morgens und nie nach acht Uhr abends.“
Danke, danke, schaute ich sie an, danke. Sie hatte gar keine unsympathische Stimme. Und sie hatte braune Augen. Ich erwartete nun, dass sie noch etwas über Damenbesuche sagen würde, sie wären nicht erlaubt oder nach zweiundzwanzig Uhr nicht mehr erlaubt. Aber sie wandte sich um. „Schlafen Sie gut. Ich klopfe bei Ihnen morgen etwas später, um neun, und bringe den Kaffee. Das Frühstück ist im Mietpreis enthalten. Zwei Tassen Kaffee, Butter und zwei Marmeladenbrötchen.“
Danke, danke…
Ich war allein. Blümchen an den Wänden. Aber recht geräumig. Ich stellte die Tasche auf den Tisch. Der Koffer mit der Trompete war darin. Und mein Waschzeug. Die Klamotten würde ich morgen einräumen. Ich zog mich bis auf die Unterhosen aus und schlich in das Bad. Zähne putzen. Das Wasser im Badeofen war vielleicht überschlagen. Ich kauerte mich in die Wanne und hielt die Brause über meinen Kopf. Das Wasser war noch kälter als der Regen, den ich unterwegs abgekommen hatte. Aber ich wusch mich, klemmte den Duschkopf zwischen die Knie, da war ein Stück Seife, wusch meine Haare, mein Gesicht, meine Arme, die Achseln darunter, stand auf, wusch meinen Hintern, meine Beine, spülte Biere und Schnäpse aus der Haut, die Reste von Urin zwischen den Beinen davon, ein blaues Frotteehandtuch hing an einem Haken.
Mit der schmutzigen Unterhose in einer Hand tippelte ich in mein Zimmer zurück. Durch das kalte Wasser und das Rubbeln mit dem Handtuch war mir so heiß geworden, dass ich erwog, mich nackt in das Federbett zu legen. Aber ohne den heizenden Ofen würde ich mich bald unter der bauschigen Zudecke verkriechen