Der falsche Gelehrte. Winfried Wolf

Der falsche Gelehrte - Winfried Wolf


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Petzold kratzte sich am Kinn. Das kann schon sein, aber Euer Mann hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Selbstmörder, der vor drei Wochen in einem Appartement in der Kohlheppstraße gefunden wurde. Der Mann hing da vermutlich schon ein paar Tage. Ein Nachbar hat uns verständigt, weil der Postkasten von diesem Schmidt überquoll und er dessen Auto beim Einparken beschädigt hatte. Es gibt ja Gott sei Dank noch Leute, die zu ihren Missetaten stehen. Und dann diese Entdeckung. Der Mann hat sich an einem Lampenhaken aufgehängt. Naja, ich will die Kollegen jetzt nicht weiter stören, wir sehen uns dann am Freitag.

      Gleich nachdem der Kollege das Zimmer verlassen hatte, heftete Helene Stumpf Pragers Bild wieder an die Wandtafel. Ich könnte Sie jetzt fragen, woran Sie gerade denken, sagte Meier. Aber ich frage Sie nicht, weil ich weiß, was Sie denken. Wir sind den Hinweisen auf einen möglichen Doppelgänger nicht ausreichend genug nachgegangen. Weil wir nichts Konkretes in der Hand hatten, ergänzte Stumpf Meiers selbstkritische Äußerungen. Wenn Sie Ihre Einladungskärtchen verteilt haben, Frau Stumpf, kümmern Sie sich doch mal um diesen Schmidt. Vermutlich geht uns die Sache nichts an, aber andererseits will ich mir nicht den Vorwurf machen lassen, eine wichtige Spur nicht gesehen zu haben. Das mit den Einladungskärtchen war keine schöne Bemerkung, Chef, aber in der Sache Schmidt bin ich Ihrer Meinung. Helene Stumpf verließ ihren Platz an der Wandtafel und ließ hörbar die Tür hinter sich zufallen. Noch jemand, der an diesem Tag nicht in bester Stimmung war.

      Meier spricht mit Dr. Fuchs

      Meier dachte an das Gespräch, das er mit diesem Dr. Fuchs vor zwei Tagen geführt hatte. Er hatte am Telefon zuerst gar nicht verstanden, was der von ihm wollte. Erst als der Name Prager fiel, hatte der Psychiater Meiers volle Aufmerksamkeit. Beide verabredeten, sich nach Dienstschluss zu treffen, wobei das Wort Dienstschluss für Meier schon lange keine Bedeutung mehr besaß, aber Dr. Fuchs hatte seine festen Dienstzeiten.

      Das Strass-Café lag fünf Gehminuten vom Bertoldsbrunnen an der Ecke Schusterstraße und Herrenstraße. Den Treffpunkt hatte Dr. Fuchs vorgeschlagen und Meier dachte zuerst, dass er sich verlaufen hätte, als er das Café betrat, denn der Laden schien ihm eher ein Schmuckgeschäft zu sein. Wie erkenne ich Sie denn, hatte Meier am Telefon gefragt. Ich trage eine schwarze Jacke und einen grell-orangefarbenen Schal. Eingetaucht in eine Glitzerwelt aus funkelnden Steinen hatte Meier etwas Mühe, den auffälligen Schal und seinen Träger zu entdecken. Dr. Fuchs saß an einem großen Fenster, von dem man aus das Treiben auf der Herrenstraße beobachten konnte. Der Kaffee stammt von der Rösterei Montano aus Kalabrien, klärte ihn der Psychiater auf. Von dieser Rösterei hatte Meier noch nie gehört. Meier sah sich um, hier saßen vorwiegend Geschäftsleute und Angestellte. Und dort steht die Faema E61, der Rolls Royce unter den Espressomaschinen, sagte Dr. Fuchs. Meier ging auf seinen Hinweis ein: Und wofür steht das „E61“? Dr. Fuchs lachte: Ich hör‘s an Ihrer Frage, Herr Kommissar, das Schickimicki-Café gefällt Ihnen nicht, aber ich will Ihre Frage beantworten: Das E im Namen steht für „Eclipse“ und verweist auf eine totale Sonnenfinsternis im Jahr 1961, dem Jahr der Erfindung des Wunderdings. Ich mag es auch gemütlicher, aber das Café fiel mir ein, als wir miteinander telefonierten, ein Patient hat es mir empfohlen. Dann ist ja alles klar, brummte Meier. Erzählen Sie mir bitte jetzt Ihre Geschichte.

      Ja, ich war mir nicht sicher, ob ich Sie anrufen sollte und auch jetzt noch frage ich mich, ob es richtig ist, Ihre wertvolle Zeit in Anspruch zu nehmen. Meier musterte den jungen Arzt, der ihm gegenüber saß und so viel Aufhebens von sich machte. Du junger Schnösel, wir werden gleich sehen, ob du mir die Zeit stiehlst und nur einen auf wichtig machst oder meine Stimmung wider Erwarten ein wenig aufhellen kannst.

      Rudolf Prager war mein Patient. Meier richtete sich auf, sein Interesse nahm schlagartig zu. Er ließ den Psychiater weiter reden, ohne zu unterbrechen. Die Hintergrundgeräusche im Lokal veranlassten ihn, seinen Stuhl etwas näher an seinen Gesprächspartner heranzurücken. Prager kam wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau zu mir. Er hatte in unserer Ambulanz um einen Termin gebeten. Ich weiß von ihm, dass Herr Prager eine Zeitlang zu Ihren Hauptverdächtigen zählte. Meier hob die Augenbrauen und wollte schon etwas sagen, aber Dr. Fuchs, vorausahnend, dass eine solche Äußerung als Einmischung verstanden werden konnte, machte mit seinem nächsten Satz eine Kommentierung überflüssig. Herr Prager war durch den gewaltsam herbeigeführten Tod seiner Frau über die Maßen aus der Bahn geworfen worden. Ich will Ihnen jetzt keine Patientengeheimnisse verraten, aber eines kann ich Ihnen doch sagen: seine Trauerbearbeitung ging über das Übliche hinaus. Er fühlte sich verfolgt und steigerte sich über die nächsten Wochen in einen Wahn hinein, den wir in der Psychiatrie allgemein als schizophrene Psychose bezeichnen. Jetzt musste Meier doch eine Zwischenfrage stellen: Sie haben eben gesagt, dass sich Prager verfolgt fühlte. Lässt sich das etwas konkreter fassen? Vorsicht, Herr Kommissar, wir reden hier nicht von Fakten, sondern von Vorstellungen. Prager sprach in diesem Zusammenhang von einem „Doppelgänger“. Von diesem Doppelgänger sah er sich bedroht, ihm schob er das begangene Verbrechen zu. Ich kenne mich in Ihrem Fachgebiet nicht aus, sagte Meier, aber halten Sie es für möglich, dass Prager sich mit dem Doppelgänger vielleicht selbst meinte. Könnte das nicht vielleicht so eine Art von Verschiebung in der Verantwortung sein? Dr. Fuchs lächelte und lehnte sich zurück. Ich weiß, was Sie meinen, Herr Kommissar, Sie denken an Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Hyde ist der isolierte böse Teil von Dr. Jekylls Persönlichkeit. Aber diesen Fall von Persönlichkeitsstörung möchte ich bei Herrn Prager ausschließen. Ich wollte auch nicht mit Ihnen über seine Krankengeschichte sprechen es ist etwas anderes, worauf ich mir keinen rechten Reim machen kann. Prager kam drei Mal zu uns in die Klinik, dann blieb er weg und schien auch nicht erreichbar zu sein. Aus Hamburg erhielt ich eine Karte von ihm. Er teilte mir mit, dass er einen Weg für sich gefunden habe und ich mir keine Sorgen um ihn zu machen brauche. Ehrlich gesagt, hat mich das ein wenig geärgert. Der Mann hat die Therapie zu einem Zeitpunkt abgebrochen als ich ihm eine stationäre Aufnahme vorschlagen wollte. Ende November letzten Jahres habe ich ihn zufällig in einem Restaurant hier in Freiburg gesehen. Er saß dort zusammen mit einem uns bekannten Immobilienhändler am Tisch. Ich konnte nicht so tun, als ob ich meinen ehemaligen Patienten nicht gesehen hätte. Ich ging also an den Tisch der beiden Herren und fragte Herrn Prager nach dem werten Befinden, ganz unverfänglich, wie ich mir einbilde. Er war erst etwas irritiert, hat aber dann scherzhaft gefragt, ob ich etwa sein Haus kaufen möchte. Ich wollte dann im Beisein des Maklers nicht mit ihm über seinen Wahn sprechen. Ja, das wäre sicher unpassend gewesen, sagte Meier, der seinem Gegenüber aufmerksam zugehört hatte. Aber fahren Sie fort, Herr Doktor, ich nehme an, dass Sie mir den Höhepunkt Ihrer Geschichte noch nicht erzählt haben. Da haben Sie Recht, ich würde gern den sog. Höhepunkt meiner Geschichte noch etwas hinauszögern, aber noch mehr Dramatik kann ich nicht bieten. Sie müssen sich mit einem Gefühl meinerseits begnügen. Ich hatte das Gefühl, das habe ich dann später auch zu meiner Frau im Auto gesagt, dass ich hier dem falschen Prager begegnet war. Wie meinen Sie das, Herr Doktor? Ich kann es nicht recht erklären, Fakten kann ich Ihnen schon gar nicht anbieten, es war eher ein Gefühl, vergleichbar vielleicht einem Gefühl, dass auch Sie vielleicht des Öfteren bei Vernehmungen haben. Sie reagieren auf eine äußerliche Begebenheit, alles scheint klar und doch haben Sie den Eindruck, dass etwas nicht stimmt, dass hinter der Fassade das Gegenteil von dem verborgen ist, das Sie erwarten konnten. Entschuldigen Sie, Herr Doktor, das klingt etwas verworren. Sie hatten also den Eindruck, dass da nicht der echte Prager vor Ihnen saß? Dr. Fuchs nickte und blickte den Passanten draußen auf der Herrenstraße nach. Beide Männer schwiegen eine Weile. Vielleicht, sagte Dr. Fuchs dann, vielleicht habe ich im Restaurant am Waldsee tatsächlich Pragers Doppelgänger getroffen. Ich kann es nicht beweisen, ich habe keine Gelegenheit gehabt, ein Personenfeststellungsverfahren in die Wege zu leiten, dafür hätte mein Gefühl auch keine Begründung geliefert. Der Mann sah aus wie Prager, ich glaubte auch die Stimme wieder zu erkennen, aber ich werde trotzdem das Gefühl nicht los, dem falschen Prager begegnet zu sein. Meier nickte und fuhr sich mit der Hand ans Kinn, das machte er immer, wenn er die Dinge abzuwägen begann. Herr Fuchs, ich würde jetzt gerne sagen, Sie haben mir sehr geholfen, aber das stimmt nicht. Sie haben bei mir eher gewisse Zweifel genährt. Wir sollten auf jeden Fall in Kontakt bleiben, es kann sein, dass ich Sie einmal bitten muss, für ein Protokoll ins Präsidium zu kommen. Ja klar, habe ich mir schon gedacht. Ich bin jedenfalls froh, dass ich Ihnen das jetzt erzählt habe. Sie sehen, Herr Kommissar, die Polizei kann auch entlasten.

      Meier


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