Der falsche Gelehrte. Winfried Wolf
der Zusatz: bei Adam und Xanthoula Grigoraki, Lentas.
Bevor Frau Gloger mit der Dicken hinter den Zypressen verschwand, drehte sie sich noch einmal um und winkte Prager zu, der seinerseits mit dem Hut in der Hand zurückwinkte. Nun war es Zeit auf die andere Straßenseite zu wechseln. Aus dem Auto holte er noch sein Klemmbrett, steckte sich Bleistift und Papier in die großen Taschen seiner Leinenjacke und stapfte trotz einsetzender Mittagshitze im Schatten der Olivenbäume zuerst zum Castellum Aquae , das ebenso wie das danebenliegende Nymphäum über einen Aquädukt mit Wasser versorgt wurde. Prager hatte sich den Plan des Statthalterpalastes mit Gerichtshalle, Thermen und Tempelbereich aus alten Grabungsberichten heraus kopiert und in eine eigens angefertigte Karte der Umgebung eingepasst. In keinem Buch hatte er bisher eine vernünftige Übersichtskarte gefunden, die dem interessierten Besucher eine klare Orientierung hätte geben können. Da muss erst ein alter Offizier der Nationalen Volksarmee kommen, um diesen Mangel abzustellen. Prager kicherte in sich hinein: Das machst du gut, du falscher Gelehrter.
Er schaute jetzt von Nordwesten her auf die monumentalen Überreste des Prätoriums , dem Sitz des Statthalters der Provinz Creta et Cyrenae . Eine aufrechte Ziegelwand, die zum Bereich der Thermen gehörte. Er hatte sich in einem Buch einmal Bilder von den Caracallathermen in Rom angesehen. So groß waren die in Gortyn natürlich nicht. Man hatte in späterer Zeit hier zusätzliche Räume eingezogen, da war das römische Reich schon im Niedergang begriffen. Vor der mächtigen Ziegelwand lagen Säulenreste, die vermutlich Teil einer Gerichtsbasilika waren. Davor wiederum Inschriftbasen, die, so hatte Prager gelesen, einst die Statuen der Statthalter trugen. Wenn das hier der Mittelpunkt des alten Gortyn gewesen sein soll, müssten eigentlich die Straßenzüge noch klar erkennbar sein. Er wandte sich nach rechts, hin zu den Resten des Aquädukts . Ein kräftiges ,saluto‘ ertönte in seinem Rücken. Hinter den Mauerresten des Nymphäums trat ein junger Mann hervor, der ihn mit strenger Miene ansah. „It‘s not allowed to be here, it‘s an archaeological area.“ Prager schaltete schnell, der junge Mann gehörte sicherlich zu einer Gruppe italienischer Archäologen, die er am Morgen von der Straße aus gesehen hatte. Ohne sich lange rechtfertigen zu wollen zeigte ihm Prager seinen Lageplan und sagte: I‘m looking for the roman streets. Der nicht unsympathisch wirkende Mann mit dem Dreitagebart streckte die Hand aus. Let me have a look into your map, please. Prager gab ihm seinen Plan und der junge Mann nickte anerkennend mit dem Kopf. I see, you are a professional. Prager konnte sich ein Lachen nicht verkneifen: I‘m a teacher for history. Roman history is my hobby.
Das Eis war gebrochen. Der junge Mann zeigte ihm auf der Karte den Verlauf der römisch-byzantinischen Straßen und bot ihm an, ihn ein Stück zu begleiten. Er wollte einige Kollegen aufsuchen, die weiter im Süden Vermessungen in der römischen Nekropole vornahmen. Prager konnte sein Glück kaum fassen, der Tag brachte ihm mehr als er am Morgen erhofft hatte. Seine Verwandlung zum Gelehrten schritt voran.
Fünf Monate vorher: Eine Wiederannäherung
Das war nicht Prager . Der Satz des Psychiaters brannte in Meier Hirn. Wenn das nicht Prager war, den Dr. Fuchs im Restaurant am Waldsee in Begleitung eines Maklers getroffen hatte, wer war es dann? Petzolds Ausruf, der sieht ja aus wie mein Selbstmörder, konnte die passende Verbindung sein. Aber Meier fand keinen Gefallen an dieser Konstruktion. Ein Mann will verschwinden, weil er fürchtet, das etwas herauskommt, was ihn belasten könnte. Er bringt einen anderen Mann um, der ihm ähnlich sieht und zur Sicherheit auch noch dessen Frau. Den Mord an seinen Doppelgänger tarnt er als Selbstmord. Von heute auf morgen nimmt er die Rolle des anderen ein. Der andere ist ein Gymnasiallehrer, der sich eben erst pensionieren ließ. Das würde natürlich gut ins Konzept passen, als pensionierter Lehrer muss man sich nicht mehr der Öffentlichkeit zeigen. Sehr gelegen käme auch, dass der Ermordete, dessen Identität man angenommen hat, recht vermögend war. Die Villa in Littenweiler kann man für eine Million Euro verkaufen. Hinzu kommt eine stattliche Pension, von der ein Polizeibeamter wie er nur träumen kann.
Eine filmreiche Geschichte, aber genau das störte Meier. Er dachte daran, was ihm Gerlinde Körner über ihre Freundin erzählt hatte. Das sind Szenen, die in einen Tatort passen aber doch nichts mit der Realität zu tun haben, oder doch? Vielleicht kann Kommissarin Stumpf in Petzolds Fall noch etwas herausfinden. Sie sollte sich den Bekanntenkreis von diesem Schmidt einmal vornehmen und nachschauen, zu welchen Ergebnissen die Spurensicherung gekommen ist. Wenn es brauchbare Hinweise auf Fremdeinwirkung gibt, können wir vielleicht den Fall Prager neu aufnehmen.
Mit diesen und ähnlichen Gedanken im Kopf machte sich Meier auf den Weg zur Modeboutique Adèle. Lieber wäre Meier mit deren Besitzerin an einem gemütlicheren Ort zusammengetroffen, aber Gerlinde Meier hatte darauf bestanden, dass er kurz vor Ladenschluss bei ihr vorbeikommen sollte. Von einer Einladung ins Präsidium hatte Meier abgesehen. In seinem Büro hätte er kaum Dienstliches mit Privatem verbinden können. Das bevorstehende Treffen war ihm schon am Morgen durch den Kopf gegangen. Es beeinflusste sogar seine Kleiderwahl. Er entschied sich für eine dunkle Anzugsjacke. Die Jeans sollten eine gewisse Lässigkeit hervorheben. Ein helles Hemd zum Wechseln steckte er zusammengelegt in seine Aktentasche. Die Entscheidung für ein frisches Hemd war goldrichtig, wie er jetzt, da er vor dem Laden stand, zufrieden feststellte. Gerlinde Körner, die gerade mit einer Kundin beschäftigt war, sah ihn hereinkommen und deutete mit einem Blick an, dass er schon mal nach hinten gehen könne. Um Missverständnisse zu vermeiden, sagte Meier im Vorbeigehen: Dann darf ich schon mal in Ihr Büro? Frau Körner strahlte ihn an und nickte. Sie trug ein schwarzes Kleid, das gut zu ihrer Figur passte, dazu rote Ohrringe und einen roten Armreif. Der Ausschnitt des Kleides ließ ihr Schlüsselbein sehen, ein Detail, das Meier besonders anziehend fand. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einer einfachen Frisur zusammengesteckt. Nehmen Sie sich einen Kaffee, rief Gerlinde Körner hinter ihm her.
Meier stand etwas unschlüssig im Vorführraum der Boutique herum und konnte sich nicht entscheiden, ob er zur Kaffeetheke gehen oder die kleine Sitzecke ansteuern sollte. Er betrachtete die Bilder der großen Modeunternehmen Chanel, Dior, Jil Sander, Armani und Versace. Ihm kam das Wort ‚Verwandlung’ in den Sinn. Mode und Schmuck verwandeln die Frauen manchmal in entrückte Wesen. Die Gesichter auf den Bildern schienen das zu bestätigen. Gesellschaftliche Konvention und persönliche Befreiung, beides konnte Mode bedeuten. Wie viel fehlte ihm, um sich in einen Dandy verwandeln zu können? Er hatte am Morgen nach dem Aufstehen daran gedacht, was er heute anziehen sollte. Normalerweise dachte er nicht darüber nach, er zog einfach an, was er immer anzog. Braune Hose, kariertes Hemd und braune Jacke, so kannte man ihn im Präsidium.
Heute Morgen dachte er an Gerlinde Körner, an die Frau, die ihm spontan einfallen würde, wenn man ihn fragen würde, ob er eine schöne Frau kenne. Für sie und nur für sie trug er die dunkle Jacke und das frische Hemd. Er dachte an Rudolf Prager, was trug der eigentlich, wenn er zur Schule fuhr? War das ein Anzugsmensch oder liebte er es etwas legerer? Gerlinde Körner unterbrach seine Gedanken, ihr Parfum umhüllte ihn wie eine rosa Wolke. Herr Meier, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee oder Wasser? Ich hätte auch ein Bier da, Sie haben schließlich schon Dienstschluss, oder? Meier entschied sich für ein Glas Wasser. Nehmen Sie doch schon mal Platz, Herr Kommissar, ich schließe nur schnell den Laden ab, dann können wir ungestört reden. Wie sollte er anfangen, er wollte nichts verderben. Am besten konventionell, entschied er.
Frau Körner, normalerweise gehört es nicht zu meinen Aufgaben, Komplimente zu vergeben, aber in Ihrem Fall muss ich einfach eine Ausnahme machen. Sie sehen einfach bezaubernd aus! Wie sich das anhört, ‚bezaubernd’, dieses Gesülze ist eigentlich gar nicht mein Stil, dachte Meier, aber bitte, wenn’s wirkt. Gerlinde Körner fühlte sich tatsächlich geschmeichelt, sie mochte den Kommissar und naja, beinahe wäre es ja schon zu einem Rendezvous gekommen, wenn da nicht diese vorgeschriebene Distanz gewesen wäre. In einem Film hatte sie einmal gesehen, wohin es führen konnte, wenn sich der Kommissar mit einer Zeugin einließ. Der Gedanke an den Film ließ sie fragen: Was treibt Sie denn in meine Arme, Herr Kommissar? Meier lächelte fast etwas verlegen. Nun ja, ich wollte eigentlich nur wissen, ob sie mit Herrn Prager noch in Kontakt stehen. Warum wollen Sie das wissen? Naja, es gäbe da noch einiges zu klären. Ich will den Fall erst mal zur Seite legen. Uns geht ja, wie Sie sich denken können, die Arbeit nicht aus und bei diesem Fall kommen wir irgendwie nicht weiter, aber wie