Der falsche Gelehrte. Winfried Wolf

Der falsche Gelehrte - Winfried Wolf


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Ton an. Schon oft hatte er bei Befragungen einiges in Erfahrung bringen können, weil es ihm gelungen war, sein Gegenüber auf seine Ebene zu ziehen. Das schien ihm auch dieses Mal zu gelingen. Gerlinde Körner hielt nicht lange mit ihren Informationen zurück und gab mehr preis, als man erwarten konnte. Ich habe Rudolf, also Herrn Prager, das letzte Mal Mitte November gesehen. Wir sind zusammen zum Essen gegangen. Ich habe ihn mit dem Auto abgeholt, weil ich dachte, dass ich mich ein wenig um ihn kümmern sollte. Er war ja wirklich nicht gut beieinander. Das wollte ich Sie gerade fragen, Frau Körner, welchen Eindruck hatten Sie? Fiel Ihnen an Herrn Prager etwas Besonderes auf? Nun ja, ich kenne ihn ja nicht so gut, ich kann also schlecht sagen, ob er vorher anders war. Aber dass es ihm nicht gut ging, hätte jeder sehen können. Er wirkte auf mich irgendwie panisch. Als wir schon beim Auto waren ging er noch einmal zum Haus zurück und überprüfte, ob er alle Türen abgeschlossen hatte. Haben Sie mit ihm über einen bevorstehenden Verkauf der Villa gesprochen? Gerlinde Körner nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Nicht zum ersten Mal bewunderte Meier ihre schlanken Hände. Die kleine Unterbrechung bot ihm die Gelegenheit, einen Blick auf ihr Dekolleté zu werfen, das die Fülle ihrer Brust dezent zur Geltung brachte. Gerlinde Körner lächelte ihn an und da dieses Lächeln so gar nicht zu dem passte, was Frau Körner über Prager erzählte, wusste Meier, dass sie sein Interesse für sie durchaus bemerkt hatte.

      Rudolf hat mir erzählt, dass er einen Antrag auf vorzeitige Pensionierung eingereicht habe. Eine Genehmigung seitens der Schulbehörde stellte er nicht in Frage. Bei einem Psychiater hatte er sich ein robustes Attest verschafft. Von einem Verkauf des Hauses hat er nicht gesprochen. Dass es dann aber doch dazu kam, hat mich eigentlich nicht gewundert. Ich selbst habe noch zu ihm gesagt, er solle sich doch jetzt ein schönes Leben machen, Geld war ja vorhanden. Hat Herr Prager Ihnen gegenüber eine Andeutung gemacht, wie dieses „schöne Leben“ aussehen könnte? Nein, aber ich habe ihm vorgeschlagen, doch jetzt im Ruhestand seinem Hobby nachzugehen. Welches Hobby hatte Herr Prager? Er interessierte sich leidenschaftlich für Geschichte. Er war sicherlich nicht der Geschichtslehrer, von dem die Schüler schwärmen, ausgenommen vielleicht die, die selber in diesem Fach ihre Erfüllung finden. Rudolfs Platz wäre eigentlich an der Universität gewesen, nicht an einer Schule, wo man sich mit Idioten herumschlagen muss. Das ist jetzt nicht von mir, das hat er gesagt. Hannah hat mir erzählt, dass er gern Archäologie studiert hätte, aber seine Eltern wollten was Bodenständiges. Ich hab’ ja auch Kunstgeschichte studiert und was ist aus mir geworden? Eine Frau wie aus einem Modejournal, entfuhr es Meier. Gerlinde Körner lachte, na ich weiß nicht, ob das gerade ein Kompliment war. Sie haben recht, sagte Meier. Wenn ich die Bilder an der Wand anschaue, die Damen haben alle etwas Seelenloses im Blick, eine laszive Langeweile spricht aus ihren Augen. Herr Kommissar, so kenne ich Sie ja gar nicht. Schreiben Sie in Ihrer Freizeit vielleicht Gedichte? So weit ist es bei mir noch nicht gekommen, grinste Meier, aber darf ich noch einmal auf unseren Herrn Prager zurückkommen. Hat er Ihnen gegenüber mal von einem „Doppelgänger“ gesprochen? Sie meinen in Zusammenhang mit der Ermordung seiner Frau? Meier nickte. Ja, er hat seinen Doppelgänger gesehen, eine merkwürdige Geschichte war das. Im Colombipark lief er an einem Mann vorbei, der auf einer Parkbank saß. Das war schon etwas ungewöhnlich, weil es ja schon recht kalt war. Noch ungewöhnlicher aber war, dass der Mann auf der Parkbank genauso aussah wie er, nur mit Hut. Rudolf ging an ihm vorbei, schaute sich dann aber nach ihm um, ich weiß nicht, vielleicht wollte er mit ihm reden. Dieser Mann, also man kann vielleicht sagen, dieser Doppelgänger, ist dann aber davongelaufen. Auf der Parkbank fand Rudolf eine Zeitung. In einem Artikel war deutlich das Wort „Tod“ unterstrichen worden. Er hat mir die Zeitung später gezeigt und ich habe ihm geraten, zur Polizei zu gehen. Bei uns hat er sich nicht gemeldet, sagte Meier. Ich weiß ja auch nicht, was ich davon halten soll, es war vielleicht nicht unbegründet, dass Rudolf dann zu einem Psychiater gegangen ist.

      Sie hatten vorhin gesagt, dass Herr Prager noch mal nachgesehen hätte, ob auch alle Türen des Hauses verschlossen waren. Hatte er Angst, dass jemand bei ihm einbrechen würde? Ja, es gibt da noch eine merkwürdige Geschichte. Als Rudolf einmal einen Arzttermin hatte, war ein Handwerker im Haus, der die Sicherheitsanlagen überprüfen wollte. Frau Scholz, die am Vormittag im Haus putzte, hat ihn hereingelassen, weil sie dachte, dass der Besuch des Handwerkers mit Rudolf abgesprochen sei. Rudolf hatte den Eindruck, das hat er mir bei unserem letzten Treffen erzählt, dass dieser ihm unbekannte Handwerker irgendetwas an der Überwachungs-anlage manipuliert habe. Na, jedenfalls war der Rudolf sehr verunsichert, er witterte hinter allem und jedem Unheil und Verrat. Ich habe ihm spontan angeboten, bei mir zu wohnen aber das wollte er nicht. Und seitdem sind Sie nicht mehr mit ihm zusammengetroffen? Nein, ich habe mich ein bisschen geärgert, dass er sich nicht mehr bei mir gemeldet hat. Er war ja wie von einem Tag auf den anderen verschwunden. Seine Haushälterin, die Frau Scholz, hat mir gesagt, dass Herr Prager das Haus verkaufen wolle und vorübergehend zu einem Freund nach Hamburg gezogen sei. Ich hab’ natürlich verstanden, dass der Rudolf das alles irgendwie hinter sich bringen wollte, aber dass er mich nicht in seine Pläne eingeweiht hat, nehme ich ihm persönlich übel. Das kann ich mir vorstellen, sagte Meier so mitfühlend er konnte. Wenn ich es richtig sehe, waren Sie ja die Einzige, die sich nach dem Tod seiner Frau um ihn gekümmert hat. Ob ich die einzige war, weiß ich nicht. Es kann sein, dass er auch noch Kontakt zu einem Kollegen am Friedrich-Gymnasium hat. Ich weiß, wen Sie meinen, der allseits beliebte Mathelehrer Leber. Gerlinde Körner musste lachen, ja, mit dem wollte mich meine Freundin Hannah fast verkuppeln, aber nein danke, ich stehe nicht so auf Formeln und deren Ableitung. Da haben wir etwas gemeinsam, grinste Meier.

      Die schöne Frau Körner lächelte ihn an: Ich hoffe, das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit. Ich würde jetzt gern das Gespräch beenden und zum gemütlichen Teil übergehen, sagte Meier mutig. Darf ich Sie noch zu einem Drink einladen? Kennen Sie Henry’s Bar in der Talstraße? Sehr gute Wahl, Herr Kommissar, aber bevor Sie mich dorthin entführen, muss ich unserem Gespräch noch das „i-Tüpfelchen“ aufsetzen. Meier war gespannt, welche Zutat wollte ihm Gerlinde Körner denn noch servieren? Es kam selten vor, dass ihm bei einer Befragung der oder die Befragte mehr sagte, als erforderlich war. Oder hatte er, der versierte Ermittler, in seiner Empfänglichkeit für weibliche Reize darauf vergessen, nach einer wichtigen Sache zu fragen?

      Rudolf hat mir einen Brief geschrieben, sagte Frau Körner schlicht. Falls Sie ihn lesen wollten, ich habe ihn nicht hier. Meier konnte seine Verblüffung kaum verbergen: Und was schreibt er? Dass er jetzt in Mexiko sei und im Frühjahr vielleicht nach Kreta gehen wolle. Nach Kreta? Herr Kommissar, vergessen Sie nicht, Rudolf ist Geschichtslehrer, wobei, auf Kreta kann man auch schön zum Baden gehen. Wir können uns ja in Henry’s Bar noch ein wenig über Kreta austauschen.

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