Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

Jakob Ponte - Helmut H. Schulz


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Indessen besaß die Stadt in einem versteckten Winkel eine Synagoge, die merkwürdigerweise nicht von uns, sondern von einer britischen Fliegerbombe in Brand gesetzt wurde und verbrannte. Und selbst wenn es mir vergönnt gewesen wäre, zu schildern, was in meinem Inneren vor sich ging, wahrscheinlich gar nichts, so entsprach die Reife der Erwachsenen um mich kaum ihrer Fähigkeit, Geschichte zu machen oder sie bloß zu verstehen; sie wären keineswegs auf der Höhe meiner Visionen gewesen.

      Ich sollte noch sagen, dass mir in jener Zeit erste erotische Gaben zuteilwurden. Ob sich indessen mein sexuelles Leben auf das ungestillte Zärtlichkeitsbedürfnis meiner armen Mama zurückführen lässt, die kein anderes Objekt ihrer Liebe als mich besaß, auf die heißen Bäder, die mir Großmutter bereitete, oder ob es sich einfach um einen mir angeborenen tierischen Trieb zur Fortpflanzung handelt, will ich nicht entscheiden, auch kann natürlich von keinem Ödipuskomplex oder der heimlichen männlich-weiblichen Kastrationsangst die Rede sein, denen der Meister des nicht Vorhandenen solche enorme Wirkungen auf unser Versagen beim praktischen Gebrauch unserer Möglichkeiten zuschreibt. Mein Penis wie mein Hirn ahnten also nicht, was er ihnen zugedacht hatte. Bereits in meinem dritten Lebensjahr regte sich allerdings mein Fleisch, zum Erstaunen Mamas, die hinter diesem Eintrag in ihr Buch ein Fragezeichen setzte. Nahm mich eine Dame auf den Schoß, so habe sie gewärtig sein müssen, dass sich mein Verlangen darauf richtete, ihre Brüste zu betasten und sie intensiv zu belecken. Mit kühlem Gesichtsausdruck soll mich diese oder jene von sich gewiesen haben, als ein allzu aufdringliches Kind. Allein es kamen keine Damen zu uns. Diese Nachrede könnte zu den Legenden meines Lebens zählen; an sexuellen Empfindungen ist mir aus jener Zeit nichts in Erinnerung geblieben. In diesem Punkt bin ich ganz auf Erwachsenenberichte angewiesen oder auf die Lehre des Hellsehers Sigmund Freud ...

      2. Kapitel

      Fortschritte in Feinsinnigkeit und Weltläufigkeit lassen sich immerhin feststellen, als ich meine Familie zu analysieren begann; une femme sotte est une benediction du ciel, eine dumme Frau ist eine Wohltat des Himmels, fand auch ich wie der vielerfahrene Voltaire vor mir bald heraus. Eine mit Einfalt gesegnete Familie sichert uns auch glückliche Kinderjahre, vorausgesetzt, der heranwachsende Knabe zeigt sich den Hausgenossen geistig gewachsen, so wie es bei mir der Fall gewesen ist. Übrigens bin ich ein Anwalt der Kinder geworden, angesichts der vielen Verbrechen, die ungesühnt an diesen Wesen verübt werden. Naturgemäß sind sie den listenreichen, ihnen an Kraft überlegenen Erwachsenen ausgeliefert, aber es gibt eben auch jene zierlichen Däumlinge, denen der Himmel Witz genug gab, den mächtigen Großen erfolgreich zu trotzen, und ihre Verlogenheit und Herrschsucht beizeiten zu durchschauen. Gewiss, man kann die kleinen Geister schnell vernichten, kann sie biegen oder brechen, um der Welt endlich jene verbogenen Produkte zu präsentieren, die sich wie Uhrwerke bewegen, Triumphe didaktischer Systeme, wo verwegenere, eigenwilligere Kinder ihre besonderen Wege suchen und allzu oft an sich selbst zugrunde gehen, sei es an einer Krankheit oder einer Droge oder einer Unterart davon, der Liebe. Was ich aus meiner Erfahrung zu berichten habe, liegt ganz auf der Linie selbsthelferischer Aktivität. Mag sein, dass solche Kraft eine Gabe des Himmels ist; ich jedenfalls schnitt im Kampf mit oder gegen meine Familie nicht übel ab. Ich träumte viel mit offenen Augen, wird erzählt, und ich will nicht widersprechen, aber hinzufügen, dass ich sie mit halb geschlossenen Augen belauerte, wie der ruhende Leopard auf seine Beute wartet, immer auf der Hut vor ihnen, vor den angeblichen Wohltaten, die sie mir bezeigten, wie den Verfolgungen meiner verborgenen, ihnen unangenehmen Laster.

      Mich beeindruckte das Porträt eines erstaunlich dicken Mannes, von dem der Alte behauptete, er heiße Friedrich der Weise und habe eine Ente zum Frühstück verzehren können, eine respektable Leistung, wenn man bedenkt, dass dieser Fürst noch Zeit fand, zusammen mit seinen Amtsgenossen die deutschen Verhältnisse gründlich zu verwirren. In der Folge flößten mir alle fetten Menschen Respekt ein, schon deshalb, weil ihnen niemand untersagen durfte zu essen, was und wie viel sie wollten.

      Aber es geschah wohl frühzeitig, dass mir die hispanisch-kreolischen Züge meines Vaters erschienen, jenes hervorragenden Mannes, welcher eines Tages in Müllhaeusen aufgetaucht war, um Quartier im Hotel Zum Löwen zu nehmen, ein Senor, der alle Welt bezaubert haben dürfte, wenn man voraussetzt, dass sich Mama für alle Welt hielt und noch hält. Von ihm besaß ich die schon erwähnten Hinterlassenschaften. Auf der Meerschaumspitze war ein Pferd zu sehen, das einen Menschen trug. Gefesselt lag er auf dem Pferderücken, er nannte sich Mazzeppa, wie Großvater erklärt hatte. So mischten sich in meine Vorstellungen allerlei Unsinn vom Argentinier und vom unglücklichen Mazzeppa, der eine im Hotel residierend und sich in Luft auflösend, der andere auf ewig an den Meerschaum gefesselt. Die Spitze schmeckte nach einem bitteren Stoff, und Großmutter verbot es mir, daran zu saugen, weil ich danach wie ein Teerfass röche. Ich aber mochte nicht glauben, dass dieser Kavalier zu seinen Lebzeiten mit Teer oder etwas ähnlich Schmutzigem in Berührung gekommen war.

      Aus dem Alter herausgekommen, wo ein Kind alles in den Mund steckt und verzehrt, was verdaut werden kann, sich also die Welt auf die ursprünglichste Art und Weise einverleibt - Kannibalen verharren in diesem Zustand, bis sie selbst in die Mägen ihrer Angehörigen gewandert sind, nachdem sie ihrerseits jene dezimiert haben, wurde ich von Mama mit Erinnerungen gefüttert. Märchen bekam ich keine zu hören, Märchen hielt sie für kindisch, aber ich war ein Kind, und es wäre mir zugekommen, in Märchenwelten zu leben. Mama gab mir auch kein Spielzeug und keines jener Bilderbücher, mit denen man die Fantasie der kleinen Plagegeister zu beschäftigten pflegt. Also empfing ich die Welt der Großen aus Mamas Händen, aber es war ihre Welt, nicht die eines Vier- oder Fünfjährigen. Alle ihre Hoffnungen kreisten um den einen Punkt, ihrer Flucht aus der Stadt. Mit Macht zog es sie in die Welt hinaus, aber sie besaß nicht die Mittel, ein unabhängiges Leben zu führen. Großmutter hielt Geld und Familie zusammen. Wenn Mama flehte, uns ziehen oder sie allein gehen zu lassen, prophezeite Großmutter ihr den Untergang. Aus mir machte Mama einen kleinen Erwachsenen, der auf Blockflöten Motetten blies, während sie selbst die Querflöte recht gut handhabte und Großvater das Harmonium traktierte. Solchen Konzerten pflegte sich Großmutter wie alle auf Gewinn eingestellten Naturen mürrisch zu entziehen. Sie flüchtete in einen ruhigen Winkel des Hauses; mit anderen Worten, sie war unmusikalisch, wie das bei auf Praxis und Erwerb gerichteten Menschen häufig der Fall ist, die fragen, was das Billett kostet, ehe sie ins Konzert gehen, die einen billigen Platz im dritten Rang des Hauses kaufen und hinterher finden, dass sich die Ausgabe nicht gelohnt habe.

      Von meinem Vater besaß ich in jener ersten Zeit meines jungen Lebens also die Vorstellungen einer betrogenen Frau; das Foto zeigte den Argentinier als ein Produkt intensiver Rassenmischung. Er sah aus wie ein Tangogeiger mit pomadisiertem, glatt gekämmtem schwarzem Haar und dünnem Lippenbart, den Mama einen Menjou nannte. Mir gefiel mein Vater nicht; sein Bild und Mamas Erzählungen nahmen mich überdies gegen ihn ein. Auf dem Foto stand eine Widmung, Hasta la vista, Worte, denen Mama diesen Sinn gab: Hastig wie das Leben. Sie spann ihren Faden. Mein Vater besäße sicherlich enorme Ländereien in Südamerika, auf seinen Weiden würden sich Millionen Rinder tummeln. Man pflege sie dort nicht zu zählen, anders als hier, wo jedem Kuhschwanz eine Schleife angebunden und jedem Ochsen eine Glocke um den Hals gehängt werde. Dort trügen die Caballeros, so hießen dort die besseren Leute, mit Silber und Gold besetzte Kleider und ritten auf wilden Pferden, wie es ihrer Würde entspreche. Wir hier führten ein trostloses Leben, aber wir würden weggehen, auch wenn sich die Alten noch so dagegen sträubten. Was Wunder, dass ich meinen vermeintlichen Vater über die Weiden Argentiniens reiten und die Köpfe seiner Rinder zählen sah, wenn nicht zählen, so sie doch mit Blicken schätzen. Es kam ja wahrhaftig nicht auf ein paar Tausend mehr oder weniger an. Mit Großvater stritt Mama, weil er sich weigerte, den Unterschied zwischen einem südamerikanischen Rind und einer Bauernkuh als ein Problem der Rangordnung ihrer Halter zu begreifen.

      Inzwischen war der Krieg ausgebrochen. Großvater hatte die Nachricht zuerst mit einem Schreck quittiert, sich aber nach dem schnellen Sieg über die Polen begeistert in die Rolle des Heimatkriegers hineingefunden. Kriegstüchtige männliche Verwandte hatten wir nicht. Wenigstens kannte ich keinen, aber ich litt weder Hunger noch Durst, bekam zu essen, was ich verlangte. Mutter, Großmutter und Großvater unterzogen sich gern der Mühe, mir den Vielfraß von den Augen abzulesen. Es genügte, dass ich schrie, um meinen Willen


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