Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
Sie verlangten manche kleine Leistung von mir, zu meinem Besten, wie sie sagten, weil sich früh krümmen müsse, was ein Häkchen werden wolle. Ich wollte kein Häkchen werden, und wollte mich demzufolge auch nicht früh krümmen. Dagegen wollte ich es lernen, mein Schicksal erträglich zu gestalten. Es ist übertrieben zu sagen, ich wäre nach einer Strategie vorgegangen, vielmehr regelte sich alles von Fall zu Fall instinktiv und wie von selbst. Rücksichtslos nutzte ich einen Vorteil aus, sobald ich ihn erkannte, und sie schlugen ihrerseits energisch zurück, falls ich ihnen dazu Gelegenheit bot und eine Schwäche erkennen ließ.
Denke ich heute an diese sorglose Zeit zurück, so bin ich erstaunt, wie viel mir davon in Erinnerung geblieben ist, nicht an Geschehnissen, wohl aber an Eindrücken. Dabei stellt sich fast von selbst die Stimme meiner Mama ein. Durch das Donnern der Düsenjäger über meinem Kopf und den aufdringlichen Lärm aus einem halben Dutzend Radios in der Umgebung höre ich ihre sanfte Mahnung, nicht soviel Süßes zu essen. In welchem Schrankfach sie Konfekt aufzubewahren pflegte, war mir gut bekannt, und solange etwas davon vorhanden war, verlangte ich danach. Hingegen würgte ich den Spinat, den sie mich zu essen zwangen, weil er gesund sei, wieder heraus. Heuchlerisch erklärten sie wohl, vom Zuckeressen werde man krank. Mama bleckte ihre Zähne, um mir zu beweisen, wie gut sich diese durch Mäßigung erhalten hatten, aber sie trug nur einige Goldplomben, wie es die Mode damals erheischte. Selbstverständlich verlangte ich nur noch dringender nach Keks, Konfekt oder Schokolade, weil mich diese Esswaren gesund erhielten, mein Glücksgefühl mehrten, nicht aber der Spinat. Der Streit endete gewöhnlich damit, dass ich bekam, was ich wollte. »Du darfst nicht denken, Jakob, ich würde dir dieses Vergnügen nicht gönnen, im Gegenteil, ich würde dir die Welt schenken, wenn sie süß und genießbar wäre, aber das ist sie nicht!« Das widersprach meinen Erfahrungen; es gab sicherlich bei Weitem mehr Saures und Bitteres als Süßes; man musste nur verstehen, das Bittere zu vermeiden. Vermutlich habe ich Mama bei dieser Rede aufmerksam und dreist angesehen, ungerührt ihr Konfekt fressend. Sie fuhr fort in ihrer alten Leier: »Nichts erhoffe ich sehnlicher, als aus der Stadt wegzukommen, aus dieser verdammten Provinz, wenn dein Vater eines Tages hier erscheinen wird. Wir haben Krieg. Wahrscheinlich wird sich unser Volk nach dem Sieg über die Erde ausbreiten, will sagen, dann steht uns die Welt offen«, sie unterbrach sich, um mir eine Frage zu stellen, ob ich lieber in Amerika oder in Frankreich leben wollte. Zweifellos entging es ihr, dass eine vernünftige Antwort auf ihre Frage nicht in meiner Macht lag; sie stellte mir immer wieder solche Aufgaben. Da ich schwieg, entschied sie: »Also Frankreich. Ich bin auch für Paris. Man hat Lebensart in diesem Frankreich, obwohl ... « sie verzog den Mund. Großmutter kam und trieb sie in den Laden an die Arbeit.
Übrigens hatte ich den Krieg vorhergefühlt; so ihr Tagebucheintrag. In jenen Tagen, etwas weniger als einem halben Jahr nach meinem vierten Geburtstag, glitt die Welt allmählich an den Rand des Abgrunds, wie ich ihrem sorgenvollen Gerede entnahm, obschon Großvater bald darauf über unsere Siege triumphierte. Was mir gegeben, das Ende vorauszusehen, das fehlte meiner Familie. Sie wiegten sich in trügerischen Hoffnungen. Mama, Tochter eines nicht unbemittelten Handwerkers und Ladeninhabers, eines Hausbesitzers und charakterschwachen Menschen, der seine Tage im Frieden mit sich und der Welt zu Ende bringen wollte, besaß das Herz eines Desperados; ihr fehlte nur der Anstoß zu tun, was sie sich sehnlichst wünschte, auszubrechen, mehr zu scheinen als zu sein, zu herrschen, eine größere Rolle zu spielen. Vermutlich hatte Großmutter recht; meine arme Mama wäre in einen Abgrund gesprungen, hätte ihr nur jemand verheißen, dort unten würde sie ihr Glück finden. Jedenfalls fühlte ich ihrer Beschreibung nach den August des Jahres 1939 hindurch eine Art Beklemmung in der Brust, was ein völlig neues Symptom bedeutet habe, weshalb sie Doktor Wilhelmi aufsuchen musste, um mich ihm vorzustellen.
Wir besaßen kein Radio und hielten keine Zeitung. Erst im Laufe des Krieges kaufte Großmutter endlich das billige Goebbels-Radio. Ich nehme an, dass keiner von uns damals wirklich wusste, was draußen vor sich ging. Es interessierte sie auch nicht, solange das träge Leben und die frohen Feste wie gewohnt verliefen. Da sich meine Übelkeit hinzog, an der Doktor Wilhelmi nichts zu ändern vermocht hatte, bestand Großmutter darauf, den Rat des Geistlichen einzuholen. Sie trafen sich, da wir ihres Beistandes bedurften, an meinem Schmerzenslager und tranken gemeinschaftlich Kaffee, den Großmutter ihnen servierte, ehe sie ans Werk gingen.
»Nun«, sagte Doktor Wilhelmi, Mama mit den Augen des Frauenkenners wohlgefällig musternd, »Fräulein Ponte, wie geht es Ihnen?« Er redete sie stets mit Fräulein an. Sie lächelte still, hob mit einer berechnenden Geste die rechte Hand bis in Kopfhöhe, sodass der weite Ärmel ihres seidigen Morgenrockes zurückfiel und ihren weißen nackten Arm und einen Teil ihrer runden Schulter sichtbar werden ließ, was selbst meine Jugend als ungehörig und berechnend empfand. Der Arzt, der meinetwegen erschienen war und sich nun an die Zeit vor ein paar Jahren erinnerte, als meine Mama und ich an den sprechstundenfreien Nachmittagen in seine Praxis geweilt hatten, seufzte auf, wohl in Erinnerungen an selige Stunden des Lasters. Ich will bemerken, dass Doktor Wilhelmi das war, was man in der Provinz eine blendende Erscheinung nannte, groß, schlank, helläugig; zu einem schmalen gut geformten Kopf, besaß er vortreffliche Manieren; kurz, er kam aus einer anderen Welt.
»Nun«, sagte Hochwürden Fabian, seinen Gegner nachäffend, »nun könnten Sie eine Probe Ihrer Kunst ablegen, mein Herr!«
Doktor Wilhelmi sagte spöttisch: »Ich würde der Geistlichkeit in diesem Falle den Vortritt lassen. Gewöhnlich kommen Sie ja nach mir.«
Großmutter stellte das Geschirr zusammen, zum Zeichen, dass nun gearbeitet werden müsse, und beide Kapazitäten näherten sich meinem Lager. Der eine suchte nach Veränderungen in meinen Organen, der andere ging den rätselhaften Turbulenzen in meiner christlichen Seele nach, denn ich war ja immerhin ein getaufter Christ. Das heißt, der Arzt behorchte meine Brust, fühlte den Puls, der Geistliche stellte bloß Fragen, an deren Inhalt ich keine eigene Erinnerung mehr besitze, nur seine Aufzeichnungen. »Eine leichte fiebrige Infektion«, erklärte Doktor Wilhelmi, »wie gewöhnlich, ich schreibe etwas auf, täglich zweimal eine Tablette.« Oh, ich erinnere mich gut dieser Tabletten, nach deren Einnahme zu meinem Entsetzen rot gefärbter Urin aus mir heraus floss. Oft genug habe ich diese Art Pillen von Doktor Wilhelmi bekommen. Noch ging der Arzt nicht, wollte offenbar das Urteil des Geistlichen abwarten. Jener setzte sich an mein Lager, legte die Hände übereinander und schloss die Augen. Leise fragte er mich, ob ich geträumt habe, was ich durch Nicken bestätigte.
Hier folge ich der Niederschrift Mamas im Tagebuch; auf der Tageseite am 29. August 1939 steht: Jakob fibril, krank! Kriegsausbruch nahe, wie der Pfaffe vermutet. Mein lieber W. verordnet Tabletten! Lenkt den Verdacht auf Schizophrenie. Wäre furchtbar. Bei uns gibt es keine Geisteskranken …
Aber nun zu den Befunden aus dem Tagebuch meines Wahlvaters Fabian. »Sage mir, was du in diesen Träumen gesehen hast«, verlangte der geistliche Herr. »Erblicktest du den Führer?« Mit ruhigem Gewissen konnte ich nicken, den Führer sah ich wie alle immer und überall, in Schaufenstern und Wohnungen stand oder hing sein Bild, in Gazetten abgedruckt und in Öl gemalt, war er doch der Liebling aller Frauen und Freund der Kinder; er war sozusagen omnipotent.
»Konntest du Soldaten erkennen? Weißt du, was Krieg ist? Wird es Krieg geben?« Vielleicht habe ich allein deshalb keine Antwort gegeben, weil sich Doktor Wilhelmi ziemlich ruppig einschaltete. »Lassen Sie doch diesen Hokuspokus!« Darauf konnte der Geistliche nur milde lächeln, angesichts der wenig überzeugenden roten Pillen der medizinischen Koryphäe.
»Lieber Doktor«, sprach er wohl, denke ich heute, Jahrzehnte später, »es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Ihre Schulweisheit sich träumen lässt, sagt jedenfalls der Dichter. Zum Beispiel bin ich sicher, dass dieses Kind Träume und Zukunftsvisionen hat, wie diese auch immer beschaffen sein mögen. Es wird Ihnen schwerfallen, die bewiesenen Fälle solcher Fähigkeiten bei Kindern oder reinen Jungfrauen anzufechten! Es handelt sich da um eine Gnade, der Sie wohl nicht teilhaftig geworden sind. Wer sie besitzt, ist wahrlich nicht zu beneiden. Ihre roten Pillen scheinen dagegen sehr entbehrlich.« Ich mag indessen von seinen Worten überzeugt gewesen sein und sprang ihm mit der Versicherung bei, dass wir Krieg bekommen würden.
»Sie sind verrückt«, sagte Doktor Wilhelmi und nahm seinen Hut, »und der Knabe ist keine reine Jungfrau. Jeder nach seiner Art, aber Ihre Kirche hat ja auch einen Bruno