Bodenfrost. Erhart Eller

Bodenfrost - Erhart Eller


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Schluss nahe, dass da ein Abgehängter der „Globalisierung“ wohnte. Einen Bildschirm gab es natürlich, auf dem ein Hartporno lief. Eine Gestalt hockte davor und stöhnte. Der Beobachter sah nur den Umriss, konnte sich gleichwohl ausmalen, welche Leibesübung da ablief. Schaffer schüttelte und fragte sich: „Wie kann man, Armut hin und her, so ein Leben führen. Aber so sind sie, die Lumpenmännchen.“ Und versicherte sich: „Ich bin nicht so und will nicht so sein. Wer erbärmlich lebt, hat nicht Grund, vor dem Ende zu zittern. Mir wird schon noch Kampfgeist erwachsen.“

      Nachher, in seiner dürftigen Wohnung, setzte er sein altes Tonbandgerät in Betrieb, lauschte alten Liedern der verstorbenen Sänger Ernst Busch und Gerhard Gundermann, die er schätzte und die in den Programmen der Dudelsender nicht vorkamen. „Es ist Sonntag in Schwarze Pumpe…Pumpe…Pumpe“, sang der einstige Braunkohle-Kumpel, immer noch, beinahe zehn Jahre nach seinem Ende. Von den Bergleuten, hohläugig und zerfetzt, Leich und Totengräber zugleich, sang der Ältere, den seinerzeit die faschistische Mordmaschine eingesaugt hatte und die er mit Glück fünfunddreißig Jahre überlebt hat. Auch er war eine Unperson im gegenwärtigen Kulturbetrieb, der, nach Wilfried Schaffers Ansicht, besser Unkultur-Betrieb heißen sollte. Und doch sang er, der Barrikaden-Tauber, noch siebenunddreißig Jahre nach seinem Tod, für ihn und sicherlich eine Anzahl anderer Menschen, die sich nicht vom Dudelfunk hatten verblöden lassen.

      Beim Klang der kämpferischen Weisen zog Wilfried Schaffer den Schluss-Strich unter den dreißigsten April. Ganz alltäglich ist der also nicht gewesen. Ein Herr Plattner war ihm begegnet, der ihm einen Arbeits-Auftrag erteilt hatte. Eine zweifelhafte Sache, doch immerhin eine, in die er sich knien konnte. Und er hatte Birgit erblickt, die Erstrebenswerte. Leider, bekräftigte er, wäre es nicht anständig, ihr nachzustellen. Sie hatte Besseres verdient, als ihn, den Besitz- und Arbeitslosen. Er stellte Mutmaßungen betreffs der Zukunft an. Vom kommenden Tag durfte er auch keine Wunder erwarten. Und dann? Die Aussicht war trüb.

      Andere Menschen in dieser Nacht

      In Weißenfels, dieser Kleinstadt in der Mitte Mitteldeutschlands, lag zur selben Zeit die Serviererin Birgit Frey schlaflos in ihrem Bett, ihre Einsamkeit bedauernd. Auch sie hörte Musik. Schmusimusi. Sie versuchte, ihre drängenden Alltagssorgen, vor allem die um den Arbeitsplatz, wegzuschieben. In dieser sagenumwobenen Nacht hätte sie nichts dagegen gehabt, eine Hexe zu sein, nur mal so auf gesalbtem Besen wie ein geölter Blitz hinauf zum Brocken zu fahren. Mit einem Teufel sich zu vereinen war indessen nicht ihr Verlangen. Sondern nach einem Menschenmann stand ihr der Sinn. Nicht irgendeinem. Einem namens Wilfried. Sie hatte vor, ihn anzulocken. Zwar nicht heute, nicht morgen, gut Ding musste Weile haben. Sie seufzte. Ein Kind von Traurigkeit ist sie nie gewesen, sondern, in jungen Jahren, ein Feger. Längst vorbei das, doch natürlich war noch Feuer drinnen. Tja, der Wilfried. Man hatte bislang nur ein paar Worte gewechselt. Grad am vergangenen Tag hatte sie ihn von fern erblickt. Und sie wusste, er hatte ihr sehnsuchtsvoll nachgeschaut. Sie kannte ihn kaum, doch sie, die Erfahrene, hatte beschlossen: „Dieser soll es sein.“ Er war spröde, ziemlich albern war das, in seinem Alter. Er war ein bisschen spinnert; einmal, als sie ihn heimlich gemustert hatte, hatte sie den Eindruck gehabt, er stünde neben sich. Das fand sie eher lustig als befremdlich. Das Wichtigste: ein Liederjan war der Willi nicht. Er war arbeitslos und schämte sich deswegen. Es war vielleicht das Bewusstsein, ganz unten zu sein, das ihn abhielt, sich ihr zu nähern. Ein blödsinniges Verhalten. Er ganz unten, sie nicht weit drüber - der Unterschied war winzig. Mochte sein, ruck zuck käme es anders herum. Sie saß auf einem Schleudersitz. Wenn der Alte mal in übler Laune war, ein paar Stammgäste wegblieben, dann – „…wünsche viel Erfolg auf dem weiteren Lebensweg.“

      Grade in der Armut musste man doch zusammenstehen. Man konnte sich zu zweit besser vor der Kälte schützen, der körperlichen wie der gesellschaftlichen. In diesem Land würde es wohl in absehbarer Zeit nicht gemütlicher werden. Sie beschwor: „Junge, mach es uns nicht so schwierig. Sei ein Mann, der weiß, was er will.“

      Die Kellnerin Birgit gestand sich einen tüchtigen Schluck aus der Likörflasche zu, als Einschlafhilfe. Bald spürte sie Bettschwere, drehte die Schmusimusi ab und sich auf die Seite.

      Am späten Abend saß der Geschäftsmann Erwin Plattner im „Café Centra“ am Markt. Er, kein Kirchgänger, doch christlich erzogen, spürte kein Gelüst, die sogenannte Walpurgisnacht gespenstisch zu begehen. Besser war, sich nach dem guten Essen bei gutem Getränk gedanklich zu sammeln. Er war fast fünfzig Jahre nicht in seiner Geburtsstadt gewesen. Als die kleine Ostrepublik noch bestanden hatte, war ihm grässliches über die Grenzkontrollen zu Ohren gekommen. In diesen Polizeistaat hatte er nicht einreisen wollen. Als die Grenze wegfiel, hatte er, in sein Unternehmen eingespannt, keine Zeit für Reisen in die einstige Heimat gehabt. Nun lief die Firma reibungslos auch ohne seine Anwesenheit, sodass er sich einen solchen Abstecher erlauben konnte.

      Verändert hatte sich die Stadt durch und durch. Damals hatten alte Häuser dicht bei dicht gestanden, Bombenschäden aus dem zweiten Weltkrieg hatte es so gut wie keine gegeben. Eng war es damals zugegangen; es war, jedenfalls in seiner Erinnerung, stets dichtes Gedränge und Lärm gewesen. Massen von Kindern hatten die Straßen und Spielplätze bevölkert. Gemessen an der früheren erschien ihm die heutige Stadt menschenleer. Viele der damaligen Häuser waren nicht mehr vorhanden. Es gab hässliche Brachgebiete. Zudem verschandelten immer noch Ruinen das Stadtbild. Immerhin, man hatte einige alte Prachtbauten aufwändig instand gesetzt. Ungesund sei das Ganze, fand er, einfach ungesund. Dabei war die Stadt, verkehrstechnisch gesehen, günstig gelegen. In der Mitte der Gegend, die Mitteldeutschland noch immer hieß, obschon sie seit dem zweiten Weltkrieg an den Rand gerückt war, geografisch wie politisch, lag sie an wichtigen Verbindungs-Strecken. Touristisch gesehen, war die Stadt, soweit er das einschätzen konnte, auch Brache, obwohl die Landschaft ansehnlich war, wenn auch nicht Spitzenlage. Obwohl Weißenfels gleichsam Mittelpunkt einstiger Kriegs-Ereignisse war, welche die Geschichte Deutschlands, ja Europas, geprägt haben. Das war ihm klar vorhin aufgeleuchtet, auf dem Stadtrundgang, für den er einen etwas herunter gekommenen Arbeitslosen angeheuert hatte, der untypisch, nämlich weder träge noch dumm, war und in der örtlichen Geschichte beschlagen. Erwin Plattner glaubte zu wissen, dass jeder, der Arbeit wollte, auch Arbeit fand. Wieso dieser gescheite Mensch also nicht? Es war müßig, darüber zu rätseln, was für eine Leiche der Merkwürdige im Keller haben mochte. Er kam auf für einen Geschäftsmann näher Liegendes. Es war nicht alles schlecht hier herum, es gab Vorzüge, die man nur ins Licht rücken musste. Man konnte ein Hotel bauen, nicht erstklassig, nicht schäbig, gediegene untere Mittelklasse, um Kurzurlauber unterzubringen, die gewillt waren, für historische Bildung Geld locker zu machen. Von diesem Hotel aus konnten Sternfahrten zu den Schlachtfeldern des Umkreises, Lützen, Roßbach, Großgörschen, Leipzig, Jena, Auerstädt, Hohenmölsen, unternommen werden. Man konnte Arbeitslose vom Schlag seines Stadtführers, wie hieß er doch gleich, ach ja, Schaffer, zu Fremdenführern umschulen. Kundige Fremdenführer, die gescheite Vorträge hielten, gewürzt mit Anekdoten, wären das A und O. Verkauf von Andenken verspräche Ertrag. Und, natürlich, Ereignis-Abende im Hotel... „Ich würd’s machen, wenn ich nicht ausgelastet wäre...“

      Das ging Herrn Plattner durch den Kopf, obwohl er ja nicht auf Geschäftsfahrt war, sondern auf Erinnerungs-Reise, mit dem Hauptziel, sich zu entspannen. Nachher kam er gedanklich auf den stadtgeschichtlichen Abriss, den er, einem Augenblicks-Einfall folgend, bei diesem, äh, Schaffer, in Auftrag gegeben hatte. Mal sehen, ob, dieser Spross der Unterklasse Brauchbares zu gestalten in der Lage war. Wenn ja, würde sich Erwin Plattner nicht lumpen lassen. Er hatte guten Draht zu Leuten vom Werbefach. Wenn so welche das Ding anschoben, sollten abertausende gedruckte Hefte zu verkaufen sein…

      Erwin Plattner war rechtschaffen müde und freute sich auf sein Hotelbett. Doch verschob er seinen Abgang, denn ein Mensch betrat den Raum, den er kannte, wenn auch nicht besonders gut. Der rief sogleich raumfüllend: „Plattner, jo mei, du hier, alter Freund. Eine echte Überraschung.“

      Als Freund dieses Menschen betrachtete Plattner sich nicht. Obwohl der Ankömmling gleichfalls Geschäftsmann war, fand er auch die Bezeichnung „Kollege“ nicht passend, denn man beackerte ganz verschiedene Felder. Er, der Mann aus dem Rheinischen, hatte jenen, am Ufer der Isar heimisch, gelegentlich getroffen, das war alles. Einmal hatte der Bayer nebenbei erwähnt,


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