Bodenfrost. Erhart Eller
zwischen Kaland- und Dammstraße, also ein Stück abseits der Saale, wohl wegen der Überschwemmungs- Gefahr, nachher zwischen Saal- und Friedrichstraße, über die Nikolaistraße, wo nahe der Fußgänger-Ampel das Nikolai-Tor stand, zum Stadtgraben beziehungsweise Stadtpark, womit der Ausgangspunkt wieder erreicht wäre.“ Er merkte noch an: „Dort vorn, bei der Fußgängerbrücke, die es in früheren Zeiten nicht gab, war ein Durchgang in der Mauer, Kuttelpforte genannt. Durch diese Pforte gingen die Fleischer mit ihren Schlacht-Abfällen, Gedärm und so weiter, um das Zeug dann in die Saale zu kippen. Die Umwelt-Verschmutzung hat also eine lange Geschichte.“
Der Westler sprach: „Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen. Mich hindern leider dringende Geschäfte, den Rundgang zu vollenden. Ich würde auch ganz gern kreuz und quer durch die Stadt gehen, mit Ihnen als Führer, aber leider… Es hat sich viel verändert.“ „Na“, dachte Schaffer, „wird jetzt kommen: halbe Leistung, halbes Geld?“
Die Sorge war unberechtigt. Der Mann zahlte prompt den vereinbarten Lohn. Und gab von sich preis: „Plattner ist mein Name. Ich wohne im Hotel Jägerhof.“ Schaffer stellte sich ebenfalls knapp vor. Herr Plattner nannte ihre Bekanntschaft angenehm und erklärte: „Eine ausführliche Führung wäre mir lieb gewesen. Da es sich nicht ergeben hat, schlage ich vor...“ Er stockte, fragte: „Sie haben doch im Schriftlichen Übung oder?“
Schaffer fragte sich, „hat auch er das Vorurteil, Ostler gleich Analfabet?“ Er antwortete: „Ich habe in der Schule nicht gefehlt, als das Schreiben dran war. Gelegentlich nutze ich diese Fähigkeit.“
Der Herr Plattner bemerkte den Spott nicht oder ging darüber hinweg. Er verkündete: „Ich schlage vor, dass Sie, in aller Ruhe, ein paar Sachen aufschreiben, was Ihre Stadt betrifft, die einst auch meine gewesen ist. Alles, was Sie für bemerkenswert halten. Ich setze Vertrauen in Sie. Ihre Redeweise sagt mir zu, daraus schließe ich auf Ihre Schreibweise.“
Schaffer wusste nicht, was er von dem Vorschlag halten sollte. Plattner ergänzte: „Es soll Ihr Schaden nicht sein. Ich dachte, Pi mal Daumen gepeilt – je nach Umfang der Arbeit, ich sag mal, bei hundert Din-A-4-Seiten, etwa...“ Es war keine astronomische Zahl, doch dem armen Schaffer wurde fast schwindlig davon. Plattner meinte dann noch: „Den Dichter Novalis sollten Sie mit ein paar Seiten würdigen. Der kommt wieder in Mode, scheint mir.“ Ferner ließ er durchblicken, dass, wenn der Text es hergäbe, ein Buch gedruckt würde, was dem Verfasser ein zusätzliches Einkommen, dazu eine gewisse Bekanntheit, einbringen würde. „Ich bin nicht ganz ohne Einfluss. – So nun muss ich aber, die Termine….“ Er überreichte dem Stadtführer eine Visitenkarte und wünschte seine Rufnummer zu erfahren. Wilfried Schaffer merkte gallig an, dass er mit einer Visitenkarte leider nicht dienen könne und kritzelte seine Nummer auf ein Stück Papier. Der Westler nickte leutselig. Schaffer argwöhnte, der Mann könnte denken: „Dem Kerl hat man den Anschluss gekappt, wegen nicht bezahlter Rechnungen...“ Wie nun, hatte er Grund, sich zu freuen? War es ein ernst gemeintes Angebot? Ob oder ob nicht, fest stand, es war der unglaubliche Fall eingetreten, dass er am Monatsletzten einen Zwanziger in der Hand hatte, mit eigener Hand verdientes Geld. Er berichtigte sich: „Mit eigenem Mund verdient.“
Erst als Plattner gegangen war, fiel ihm ein, dass er nichts Schriftliches in der Hand hatte. Also, ihn anrufen, es nachfordern? Es wäre ein Treppenwitz.
Es war also doch nicht ein Tag wie jeder andere. Einen kleinen Erfolg hatte er errungen. In der schäbigen Kaufhalle hinter den Bushaltestellen, die einst, in den Achtzigern, das Aushängeschild des „sozialistischen Einzelhandels“ gewesen war, holte er, wie geplant, Brot, etwas abgepackte Wurst und ebensolchen Schnittkäse. Und - schließlich durfte er sich nach getaner Arbeit etwas Vergnügen gönnen - eine Flasche Rotwein und zwei Flaschen Bier. Sein Hunger war nicht gering, doch knall und fall fasste er den Vorsatz, an diesem Tag nichts mehr zu essen. Denn er meinte, Fasten kläre die Gedanken. Was die Getränke betraf - warum sollte er denen entsagen, da er sich doch einen tüchtigen Schluck verdient hatte. Freilich, das Trinken konnte, zumal auf leeren Magen, die Gedanken vernebeln, vielleicht aber auch beflügeln, die Einbildungskraft stärken. Diese Art Stärkung dürfte ihm nützlich sein, könnte ihm, ja warum denn nicht, vielleicht doch einen Ausweg aus der Notlage zeigen. Das Angebot des Westlers Plattner konnte keine wirkliche Rettung sein, doch immerhin. Er sollte die Sache gründlich bedenken. Wenn er sich entschlösse, für Plattner zu arbeiten, dann gewissenhaft, wie es seine Art war. Ob er tatsächlich angemessen entlohnt würde? Dieser Mensch schien gut betucht zu sein. Den Eindruck eines windigen Burschen machte er nicht. Jedenfalls war eine Schrift über die Stadt Weißenfels eine Aufgabe, die ihn reizte. Es wäre eine ausfüllende Tätigkeit, die Aktenstudium erforderte, sollte das Geschreibsel Hand und Fuß bekommen. Zum Beispiel würde er das Stadt-Archiv aufsuchen müssen. Ihm kam unangenehme Erinnerung. Vor einiger Zeit hatte er, wissbegierig in Sachen Heimatgeschichte, dort hinein gehen wollen, mit Hinblick auf die Macher des Heimatblatts, denen er sich vielleicht als Mitmacher anbieten wollte. Schon dass er Gebühr entrichten musste, war ärgerlich. Noch ärgerlicher war, dass die Angestellte, welche die Gebühr einzog, ihn über den Grund seines Kommens bohrend ausfragte. Er hatte sie daraufhin mir schwülstigen, wissenschaftlich klingenden Redensarten abgefertigt, sie hatte den darin liegenden Spott nicht verstanden. Und ernüchternd war, dass man ihm nur einen Teil der gewünschten Dokumente auf den Tisch geklatscht hatte, darunter immerhin das Tagebuch eines Goldschmieds namens Brembach. Man tat es mit großer Herablassung, mit unmissverständlicher Geste und Miene: Einer wie du darf hier eigentlich nicht studieren, nur aus unermesslicher Gnade… Als er fortging, hatte er einen erleichterten Seufzer zu hören gemeint.
Gespenstisches, Walpurgis-gemäß
Wilfried Schaffer leerte eine Bierflasche. Nun war er fest entschlossen, das Wagnis Schreiben für Plattner einzugehen. Also ran! Zwar nicht sofort. Er hatte an diesem Nachmittag nicht Lust, sich an den Schreibtisch in seiner trostarmen Wohnung zu setzen. Vielmehr sollte er den Rest des Tags weiter nach Glück suchen. In seiner Lage eine Gelegenheit, die sich womöglich bot zu versäumen, wäre sträflich…
Unterwegs kamen ihm Gedankensplitter in Sachen Schreiberei ein. Er riss von der Papiertüte, in der das Brot steckte, einen Fetzen, kritzelte darauf Stichpunkte, während er die Leipziger Straße unter die Füße nahm. In Marktnähe gab es einige prächtig aufgefrischte Barockhäuser, weiter draußen herrschte Trostlosigkeit: schmucklose Altbauten, zwischen denen Lücken klafften. Nachher war da nur noch Lücke und weiter gar nichts. Einst ist die Straße von kleinen Häusern dicht gesäumt, sind die Häuser stark bevölkert gewesen. Nun war das Gelände Parkplatz und nichts sonst. Im zweiten Weltkrieg hatte die Stadt zwar ihre Brücken, doch kaum Gebäude eingebüßt. Doch danach hatte sich der Verfall rasch und rascher vollzogen. Abriss war billiger als Instandsetzung. Am Ende der riesigen Brache, dicht an der Saale, gab es ein beliebtes Gasthaus, letzter Rest der einst langen Zeile kleiner Fischer-, Handwerker- und Krämer-Häuser. Das Gasthaus war wie eine Oase in der Wüste.
Da ihm die Ödnis hierorts missfiel, erstieg Schaffer die Anhöhe, die das Saaletal begrenzte, Klemmberg genannt. Er nutzte die Treppe aus zweihundert Stufen, die, vordem ganz verfallen, inzwischen im Rahmen einer „Arbeits-Beschaffungs-Maßnahme“ aufs Feinste erneuert worden war. Obwohl die Menschen, die als Teilnehmer von „Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen“ von den „Besserverdienern“ und auch von vielen Geringverdienern des „ersten Arbeitsmarkts“ herzlich verachtet wurden, hätte Schaffer dabei gern mitgetan, allein - er war nicht „zugangsberechtigt“.
Die zweihundert Stufen strengten den Ermatteten an; oben musste er tief durchatmen. Seinen Hunger nahm er kaum wahr, doch Durst plagte ihn. Während er vom nahen Aussichtspunkt Blicke auf die Dächer der inneren Stadt warf, leerte er die zweite Bierflasche.
Dabei bescheinigte er der Gebäude-Anhäufung namens Weißenfels nochmals, dass diese nicht immer grau und unbedeutend gewesen ist. In der Mitte Mitteldeutschlands gelegen, hatte das Städtchen lange Zeit etwas Geltung besessen. Immerhin war es über Jahrzehnte Residenzstadt eines nachrangigen sächsischen Herzogtums gewesen, hatte zuvor gelegentlich den Hof des sächsischen Kurfürsten beherbergt. Mit der Zeit war die Stadt aus den Nähten geplatzt; im neunzehnten Jahrhundert hatte man die Stadtmauer abgerissen, die Tore geschleift. Der wachsende Verkehr auf den wichtigen Straßen, die durch die Stadt führten, hatte deren Erweiterung