Bodenfrost. Erhart Eller

Bodenfrost - Erhart Eller


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Bild! Der von den einst schmucken Häuserzeilen übrig gebliebene, graue, von Ruß gedunkelte, lückenhafte Rest, schrie danach, gleichfalls abgerissen zu werden. Ihn stießen die von Abgasen gebeizten Ziegelmauern, mit ihrem löcherigen Kleid von zerbröselndem Putz ab, nicht weniger die hässlichen Fensterhöhlen. Wo noch Scheiben vorhanden waren, starrten sie von Schmutz. Kaum glaublich und doch wahr – hinter einigen der Fenster hausten Menschen. Er sah schäbige Gardinen hängen und die schmuddelige Flagge eines Münchner Fußballclubs – arme Leute als Fans des Klubs der ganz Reichen – das war abartig, fand Wilfried Schaffer. Hatten diese Zeitgenossen denn kein Schamgefühl?

      Abscheulich war ihm die stinkende Lawine des Kraftverkehrs, der die Wände erzittern ließ und die Lungen ätzte. Er traf die bittere Feststellung: „Eine Lebensader ist diese Fernstraße, freilich nicht für die Stadt Weißenfels.“ Bergan, bergab, rollten Unmengen von Gütern, die anderswo den Wohlstand mehren mochten - hier hatte man nur den Dreck, den Gestank. Was für ein Irrsinn – die Stadtbewohner wurden weniger und weniger, doch der Verkehr nahm unablässig zu.

      Immerhin gab es selbst hier Natur, die ihn erfreute. Hinter schadhafter Mauer ragten Linden und Kastanien, deren grünes Gezweig den Fußweg überdachte. Freilich trat Schaffer nicht unter dieses Blätterdach; sondern, als vorsichtiger Mensch, dem die Reinlichkeit viel bedeutete, wechselte er die Straßenseite. Denn im Geäst nisteten Krähen in großer Zahl. Die dunklen Vögel fraßen und verdauten insbesondere zu dieser Jahreszeit ausgiebig; der Fußweg war dick gekalkt. Hinter Mauer und Bäumen konnte er verfallene Backstein-Gebäude ausmachen. Er wusste: Einst hat es hier eine Brauerei gegeben, die, wie alte Leute berichteten, ein schmackhaftes Bier erzeugte, bis die Strategen der Planwirtschaft darauf verfielen, den Getränkequell umzuwidmen; statt brauen nun schustern. Die Schuhfertigung wurde allerdings keine Erfolgsgeschichte und war inzwischen eine so ferne Vergangenheit, dass die jungen Leute nichts davon wussten. Betrübt vermerkte er: „Ringsumher wird Null Komma nichts noch hergestellt, nur Krämerei gibt es in Hülle und Fülle.“ Dass man in der Nähe des Krähenparadieses die mürbe Begrenzungsmauer abgerissen und eine Tankstelle hingestellt hatte, behagte ihm nicht. Und ihm missfiel, dass die Kraftstoffe schon wieder teurer geworden waren. Die Preistreiberei der Ölkonzerne musste ihn zwar nicht jucken. Sein Wägelchen hatte er vor Jahren verkaufen müssen, weil er es nicht mehr unterhalten konnte.

      Hinter der nächsten Bresche befand sich nunmehr eine Kaufhalle, zur Erleichterung Wilfried Schaffers, wie überhaupt der armen Leute der Umgebung, die, gleich ihm nicht motorisiert, Mühe hatten, zu den riesigen Einkaufsflächen am Stadtrand zu gelangen. In dieser Halle wollte er die Kleinigkeit an Lebensmitteln kaufen, die er sich leisten konnte. Er querte die Straße und bekam etwas zu sehen, das er zur Genüge kannte, das ihn gleichwohl eben jetzt sehr ärgerte: Vor der Halle standen zweifelhafte Gestalten beisammen, die sich nicht um das Schild scherten, welches den Alkoholgenuss auf dem Gelände untersagte. Sie standen als eine geklumpte Masse, gossen Flaschenbier in sich, bliesen Zigarettenqualm in die Umgebung, schwatzten lautstark, so, als ob es sich um lauter Schwerhörige handelte.

      Er sollte, meinte er, diese da links links liegen lassen, den Einkauf erledigen, verschwinden. Doch er blieb zögernd stehen. Denn eben jetzt schmerzte ihn die Tatsache ganz besonders, dass der anrüchige Berufsstand der Blatt- und Sendungsmacher ihn und seinesgleichen mit diesen verkommenen Menschen in einen Topf warf. Nahezu einstimmig wurden er und seinesgleichen gleich denen da als Schmarotzer verlästert. Die gut geschmierte Volksverdummungs-Maschine trötete unablässig: „Ihr, die ihr hart arbeitet, sollt mit Fug und Recht das Geschmeiß verachten, das sich faul in der sozialen Hängematte wälzt und alle Fleißigen auslacht. Leicht könnte sich dieses schlaffe Pack am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen (Wer Arbeit ernsthaft sucht, wird sie finden). Doch lieber ergibt sich das Pack dem Trunke und anderen Lastern und lässt sich durchfüttern.“

      Ja, man verdummte die Masse erfolgreich und besonders schlimm war, fand Wilfried Schaffer, dass so manche Schreibtischtäter in den Ämtern, ganz besonders die in der Arge, der für ihn zuständigen Unterdrückungs-Dienststelle, diese Sichtweise blindlings teilten. Das alles erfüllte ihn seit langem mit Groll, riss ihn, den Umgänglichen, jedoch nicht zu Zornes-Ausbruch hin.

      Doch just in dieser Minute, da er unschlüssig stand, ging durch den Langzeit-Arbeitslosen Wilfried Schaffer ein Ruck. Klar erkannte er: übel war seine Lebenslage, übel war die Lage derer da. Er sollte sie nicht verachten, sondern brüderlich sein. Er sollte nicht Duckmäuser, sondern Aufsteher sein. Es war doch, zum Teufel, an der Zeit, die Verhältnisse zu ändern. Die Volksverdummer verunglimpften die gesamte Unterschicht als eine formlose, gärende, zerstörungswillige Masse, die niedergehalten werden müsse, sollte das Abendland nicht untergehen… Schlussfolgerung zog er. Ja, zu zerstören galt es einiges. Allerdings nicht blindwütig, sondern gezielt. Dazu war nötig, fand er, dass sich die Unteren, die Enterbten, die Ausgestoßenen, zu einem mächtigen Marschblock formten. Die Verachtung der Verachteten untereinander, das war ihm nun glasklar, nutzte nur den herrschenden Herrschaften. Die war das Schmiermittel, welches die Höllenmaschine am Laufen hielt…

      So dachte plötzlich der von Wesen friedsame Wilfried Schaffer. Und er warf seine Abneigung seitwärts, wollte jetzt und hier zur Einigkeit den ersten Schritt tun, indem er den Graben, der ihn von denen da trennte, übersprang. Er schritt voran und ihm kam ihm ein kühner Gedanke, der nämlich, dass er mit der Tat, die er vorhatte eine Initialzündung auslösen könne, aus welcher bald eine mächtige Bewegung erwüchse, die durch ihre schiere Größe die herrschenden Herrschaften und deren willige Gehilfen niederwalzte…

      Er steuerte die verkommene Truppe an, summte dabei eine Melodie, die aus tiefsten Tiefen seines Gedächtnisses emportauchte, jenen einst in Frankreich entstandenen Kampfgesang: „Auf, auf, Verdammte dieser Erde...“

      Sein Vormarsch stockte. Diese Geruchswolke! Dieses Geschwafel! Dieses feindselige Glotzen! Der fröhliche Gruß, mit dem er hinzu treten wollte, kam nicht über seine Lippen. Denn er wurde prompt angebrüllt: „Glotz nicht so blöd, Brettermaul! Hol ne Bierrunde, zackig, sonst gibt’s auf die Fresse!“

      Die Ernüchterung hätte nicht größer sein können. Um den drohenden Zusammenstoß zu vermeiden, setzte er, der Verträgliche, sich eilig ab. Beleidigungen aus schmutzigen Mündern flogen ihm hinterher. Der Funke der revolutionären Begeisterung verglimmte. Er stand wieder auf dem Boden der Tatsachen. Mit diesen Tagedieben war keine Verständigung möglich. Bitter war ihm die Erkenntnis: Eine festgefügte Unterklasse, die vereint mit der ganzen arbeitenden Bevölkerung, die unguten Verhältnisse umstürzte, lag in nebliger Ferne… Seine erste Maßnahme an diesem Tag war, da gab es nichts zu beschönigen, bevor sie stattfand, gründlich gescheitert.

      Er ließ sich nicht beirren. Nichts und niemand sollte ihm den hoffnungsvollen Tag verderben. Er marschierte drauflos, stadteinwärts. Ein bestimmtes Ziel hatte er nicht vor Augen. Die großen Menschheitsfragen waren ihm jetzt und bis auf weiteres nicht wichtig. Das eigene Glück hatte Vorrang. Ob ihm dieses winken würde? Wenn nicht, durfte er doch wenigstens auf erfreulichere Begegnungen hoffen als die grad eben. Den Einkauf wollte er irgendwann irgendwo nebenbei erledigen. Träfe er Bekannte, mit denen sich gute Gespräche führen ließen, wäre das schon einmal ein kleines Glück. Denn die Einsamkeit drückte ihm augenblicklich schwer aufs Gemüt.

      Er beschritt die ebenso verkehrsreiche wie menschenarme Friedrichstraße, die vormals nach Rudolf Breitscheid, einem Opfer des Faschismus, geheißen hatte. Dann nahm er die Jüdenstraße unter die Füße. Deren voriger Name, Friedrich-Engels-Straße, ist den nach Neunzehnhundertneunundachtzig maßgebenden Leuten ebenfalls unleidlich gewesen. Diese Straße, eigentlich den Fußgängern vorbehalten, von Radfahrern unberechtigt und gefahrbringend genutzt, war von Geschäften gesäumt; neben einigen Bäcker-, Fleischer-, Gemüse- Blumenläden, war die Abteilung Ramsch stark vertreten. Außerdem gab es viel Leerstand. Der Kleinhandel erlebte ja eine Dauerkrise. Schaffer fand es beklemmend, dass er auf dieser Straße so viele Rentner und so wenige Jüngere erblickte. Die Floskel vom „sterbenden Land“ kam ihm ein. Grüppchen von bejahrten Menschen standen schwatzend beisammen, saßen vor den Bäckerläden auf Klappstühlen an Klapptischen in der Sonne, bei Kaffee und Kuchen, Flachsinniges redend, so den Lebensabend genießend. Den Langzeit-Arbeitslosen beschlich ein kleiner hässlicher Neid. Weil er einschätzte,


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