Bodenfrost. Erhart Eller

Bodenfrost - Erhart Eller


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Aufbruch

      Spiegelung, nicht Vorspiegelung

      Ausschweifende Betrachtungen

      Traumhafte Wirklichkeit, gar nicht traumhafte Träumerei, Enttäuschendes

      Was ist Sache?

      Nachtrag

      Der dreißigste des April Zweitausendundsieben

      Morgenstund ohne Gold im Mund

      Wilfried Schaffer war ein besitzloser, erwerbsloser Mensch, dessen Dasein sich weitgehend unbemerkt vollzog, obschon er das Licht nicht scheute.

      An jenem Montag-Morgen erwachte dieser einsame Wolf, dem die Einsamkeit nicht behagte, bereits vor Sechs. Er hatte leidlich geschlafen, doch wirres Zeug geträumt. Zielstrebiges Träumen wäre ihm lieber gewesen. Gut hätte er einen Traum gefunden, der ihm offenbarte, wie er seine Lage bessern könnte. Doch solchen Traum konnte er nicht erzwingen. Das war beklagenswert, doch jetzt war nicht die Zeit zu klagen. Eine Frage galt es zu bedenken: „Wie bewältige ich den heutigen Tag?“ Die nächstliegende Antwort hieß: „Liegen bleiben, um Energie zu sparen.“ Dieses Nächstliegende kam für ihn nicht in Betracht. In ihm steckte der unbezwingliche Drang, tätig zu sein, obschon sein Tun absehbar nichts bewirken würde.

      Punkt Sechs, mit dem Klingeln des Weckers, erhob er sich von seiner knarrenden Liege zur schnörkellosen Körper-Reinigung. Dabei ging ihm Düsteres durch den Kopf. Der sogenannte Arbeitsmarkt war ihm fest verschlossen. Die nicht mehr zu zählenden Besuche bei Ämtern und Agenturen sind vergeblich gewesen. Verachtung war ihm oft begegnet, kaum verhohlen oder ganz ungeschminkt. Zugegeben, er hatte auch mit anständigen Ämtlern zu tun gehabt; eine durchaus Anständige war die für ihn zuständige „Fall-Managerin“. Die ging mit ihm wie mit einem Menschen um, wollte ehrlich helfen, doch konnte nicht. Er war nun einmal ziemlich lange heraus aus dem Berufsleben, Fünfundvierzig alt inzwischen, somit, nach vorherrschender Ansicht, eine Ware jenseits des Verfalls-Datums. In früheren Jahren hatte man ihn gelegentlich mit „Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen“ abgespeist, die bescheiden entlohnt wurden, doch immerhin. Er, der mit Geld umgehen konnte, war einigermaßen zurecht gekommen. In der Vergangenheit hatte er manchmal Kurzzeitiges ergattert, zuletzt im vergangenen Jahr, als er bei einem Gebäude-Abriss Schrott aufklaubte, unter großer Verletzungsgefahr, die ihm, dem Eifrigen, erst hinterher klar geworden war. Am Ende hatte man ihn um seinen erbärmlichen Lohn betrügen wollen. Ja, für einen wie ihn war in diesem Landstrich sogar eine befristete, schlecht bezahlte, Teilzeitstelle, wie eine Wasserstelle in der Wüste…

      Seine Lage, seit Jahren angespannt, erschien ihm eben an diesem Morgen unerträglich und er sagte sich, es müsse heute etwas Umkrempelndes geschehen, sonst stünde er für nichts mehr ein.

      Er setzte sich zum dürftigen Frühstück, das aus einem Kanten Brot mit Marmelade und einem Glas Milch bestand. Während er lustlos kaute und schluckte, überlegte er, wie er es angehen könnte. Die hundert und erste Bewerbung schreiben? Zu den nutzlosen Bewerbungen war er verpflichtet. Versäumte er, die geforderte Anzahl je Monat zu schreiben, würde ihm die erbärmliche Stütze, das Hartzgeld, gekürzt, im Wiederholungsfall gestrichen. Heute allerdings mochte er sich diese Zumutung nicht antun. Eine anständige Arbeit, war, wenn überhaupt, nicht über die Bürokratie, sondern nur durch Beziehungen zu bekommen. Sein Pech, dass es ihm daran mangelte. Wäre er in ein Netzwerk eingebunden, wäre er nie in die jetzige Lage, die er nicht verschuldet hatte, gekommen. Beinahe mit Wehmut dachte er an die einstige kleine Republik zurück, wo viele begehrte Dinge nur durch Beziehungen zu erlangen waren, jedoch Arbeits-Angebote anstelligen Menschen sozusagen nachgeworfen wurden. Einst hatte er zwar kein Vermögen, doch sonst so manches besessen: eine erträgliche Arbeit, Frau, Kind, ein sicheres, wenn auch nicht üppiges, Einkommen, die Achtung der Mitmenschen. Geblieben war ihm nur die Selbstachtung und tapfer kämpfte er darum, dieses Letzte nicht zu verlieren. Ausgegrenzte neigten dazu, sich hängen zu lassen. Nicht so der Langzeit-Arbeitslose Wilfried Schaffer. Er hielt seine kleine Wohnung peinlich sauber, obwohl er keinen Besuch bekam. Den armseligen Haushalt hielt er in Schuss. Er betätigte sich täglich am Schreibtisch. Das alte Stück hatte er vor kurzem ergattert und aufwändig aufgemöbelt. Er, der Nicht-Fachmann, hatte es ganz gut hinbekommen und hatte nunmehr einen anständigen Arbeitsplatz für die geistige Tätigkeit. Er hatte sich angewöhnt, Texte aus dem Englischen zu übersetzen, das ihm geläufig war. Dieses Hirnfutter fand er auf ausgefransten Hüllen seiner alten Plattensammlung und in Zeitungen, die er ab und zu in die Hand bekam. Weil das allein ihn nicht befriedigte, versuchte er sich auch im Spanischen, da er an eine Broschüre in dieser Sprache gekommen war. Er bediente sich dazu eines Wörterbuchs, das er sich einst angeschafft hatte, wegen einer in Aussicht stehenden Reise nach Cuba. Die hatte sich damals zerschlagen, das Buch hatte viele Jahre hinten und unten gelegen, nun hatte er es ans Licht geholt. Er übersetzte einige Zeilen, spürte allerdings bald, dass ihn heute diese brotlose Kunst nicht befriedigen konnte. Was aber stattdessen? Nebenher stellte er bitter fest, dass es ihm nichts bringen würde, zehn Sprachen in Wort und Schrift zu beherrschen – ihm, dem Abgestempelten, bliebe der „erste Arbeitsmarkt“ gleichwohl verschlossen. Trotz alledem – er musste tätig sein!

      Wie, wenn er sich als Schreiber versuchte? In jungen Jahren ist ihm die Fähigkeit zum Erzählen bescheinigt worden. Gelegentlich, nach der Arbeit, hatte er einst in geselliger Runde, sprühend von Einfällen, für Kurzweil gesorgt. Er hatte nichts aufgeschrieben. Er hätte aufschreiben sollen. Überhaupt, fand er, sei es an der Zeit, diese seine Fähigkeit zu hegen und zu pflegen, obschon er nicht die Aussicht hatte, in Zeitungen und Zeitschriften etwas zu veröffentlichen. Denn auch dafür brauchte es Beziehungen, das war ihm klar. Immerhin, bei den Machern der Heimatzeitschrift, die vierteljährlich erschien, sollte er gelegentlich anklopfen…

      Nachdem er eine halbe Stunde fruchtlos am Schreibtisch verbracht hatte, fand er, es habe keinen Zweck. Ein andermal lief es vielleicht besser. Hoffentlich. Jetzt hieß die Losung: „Hinaus!“ Er sollte Wohnung und Haus verlassen, bevor ihn die Wände erdrückten. Er schaute in seine Börse. Etwas Klimpergeld lag darin. Er konnte einkaufen, wenn auch nur das Allernötigste. Mochte sein, das erbärmliche Hartzgeld für den Mai lag bereits auf seinem Konto. Doch es war ihm eisernes Gesetz, nichts von dem, das für später bestimmt war, in der Gegenwart zu verbrauchen. Woraus folgte, entweder er kaufte etwas zum beißen oder zum trinken; beides zusammen ging nicht.

      Nach innerem Kampf gab er dem Beißbaren den Vorzug und bewies sich damit: „Ich bin kein Süchtling.“ Er zog seine abgetragene Jacke über, trat in die schief getretenen Schuhe, verließ sein Heim, in dem er sich, trotz seiner Mühen, es wohnlich zu gestalten, nicht heimisch fühlte. Sein Grundgefühl hatte er im Gepäck, den stillen Groll über seine missliche Lage. Jedoch war in ihm nun die durch nichts begründete Hoffnung aufgekeimt, dass sich heute, gerade heute, seine Lage erheblich ändern könnte.

      Leichtfüßig strebte Wilfried Schaffer hinweg von seinem Wohnblock, den man, in den Achtziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, aus Betonplatten gefertigt hatte und in dem alleinstehende, vereinzelte, einsame, Menschen wohnten. Er ließ die Bus-Haltestelle hinter sich, ging stadteinwärts, den Hohlweg, „Im Kruge“ benannt, hinab. Auf dem Hang rechts des Wegs befanden sich Kleingärten, links das Gelände eines Kindergartens, anschließend ein Parkplatz, eine Wiese mit Kirschbäumen, Blocks mit Balkonen darüber. Vielstimmiges Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Neidvoll dachte er: „Die haben gut singen, leben fröhlich in den Tag hinein.“ Dann aber sagte er sich; dass die Tierchen nicht aus reiner Freude trällerten. Sie standen in hartem Wettbewerb; nur die besten Sänger wurden zur Paarung zugelassen. Ja im Tierreich sich zu behaupten, war auch nicht leicht. Der nächste Winter kam bestimmt. So manches Vögelchen, das jetzt zwitscherte, würde die kalte Jahreszeit nicht überleben. Ob Wilfried Schaffer den Winter überleben würde, wusste er nicht, doch nicht nur deshalb war ihm nicht nach zwitschern zumute. Er traf die Feststellung, dass den Menschen die Möglichkeit offen stand, sich Vernunft anzueignen, doch viele Menschen nicht das Bedürfnis hatten, sich über das Tierreich zu erheben.

      Links gab es weitere Kleingärten, einige davon verwildert. Er erinnerte sich gut, dass seinerzeit, als es die kleine Republik noch gab, solche Gärten als Juwelen galten. In der Gegenwart, das wusste er, wurden sie angeboten wie


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