Himmel über der Maremma. Ursula Tintelnot
stand vor dem kalten Kamin in der Bibliothek, beobachtete seine Frau und hörte ihre Vorwürfe.
Eine Löwin, die ein Junges zurechtweist, das zu weit gegangen ist, dachte er. Sie sollte nicht in diesem Ton mit Frederico sprechen.
Ich kenne dich nicht mehr, fuhr es Theresa durch den Kopf.
Sie machte sich wirklich Sorgen um ihren Sohn.
Er war kein kleiner Junge mehr, aber er benahm sich so. Mit neunzehn sollte er überlegter handeln.
Man konnte ihn nicht zwingen, das Gut zu übernehmen. Auch darüber würden sie sprechen müssen. Sie seufzte. Er war der Erbe, und sie war sicher, dass Maxim sich nichts mehr wünschte, als dass Frederico dieses Erbe annahm.
Nicht heute, entschied sie.
Vielleicht sollte sie das Gespräch darüber Maxim überlassen? Sie fand keinen Zugang mehr zu ihrem Sohn.
Sie wandte sich an ihren Mann. »Der Grund für meine Entscheidung, Raffael von Professor Donato behandeln zu lassen, ist, dass unser Sohn an diesem Unfall schuld ist.«
»Ja, das ist richtig, ich halte es trotzdem für etwas übertrieben«, sagte Maxim und sah auf seine Armbanduhr.
Theresa erhob sich, strich ihr Kleid mit einer Bewegung glatt, die selbstverständlich und aufreizend zugleich war. Sie ging zur Tür.
»Ich sehe, du willst noch ausgehen, Maxim. Wir sehen uns morgen.«
Einen Moment lang überlegte Maximilian, nicht mehr nach Grosseto zu fahren. Manchmal verstand er sich selbst nicht. Er verließ eine Frau, die er bewunderte, ja, liebte, um sich bei einer Schlampe zu beweisen. Sidonie war zwar eine attraktive Schlampe, aber eben auch nicht mehr. Seine Frau war eine elegante, intelligente … Theresa forderte ihn heraus. Sie war exquisit und anstrengend. Bei Sidonie konnte er sich gehen lassen.
Frederico sah erleichtert hinter seiner Mutter her. Für einen Moment hasste er sie. Sie wurde zu einer Fremden, wenn sie mit ihm in diesem Ton sprach, kühl und emotionslos. Lieber war ihm, wenn sie richtig böse wurde, damit konnte er besser umgehen.
Theresa sie musste sich beherrschen, die Tür nicht zuzuknallen. Wann hatte sie den Kontakt zu ihrem Kind verloren? Nein, dieses Gespräch war nicht sehr erfolgreich verlaufen. Maxim hatte nicht nur einmal auf die Uhr geschaut, und Frederico … hatte er tatsächlich gesagt »Er lebt ja noch«?
Sie war kurz davor gewesen, ihn zu schlagen.
Für einen Moment lehnte sie sich gegen die Wand und schloss die Augen.
Als sie Frederico hörte, erstarrte sie.
»Ich versteh Mama nicht. Sie übertreibt ihre Verantwortung. Muss man einen Pferdeburschen derart verwöhnen? Oder steckt da noch was anderes dahinter?« Ihr Sohn war scharfsichtiger, als ihr lieb sein konnte.
»Raffael ist nicht einfach ein Pferdebursche, er hat eine ausgezeichnete Ausbildung. Von Schafzucht bis Pferdehaltung hat er alles gelernt. Er könnte morgen den Betrieb hier übernehmen.«
Theresa hörte Fredericos Antwort: »Na, dann hast du ja einen Nachfolger.«
»Ich wünschte, du könntest das sein.«
»Nein, Papa, vergiss es.«
Ihr Sohn hatte Höhenflüge im wahrsten Sinn. Er wollte Pilot werden.
Theresa drehte ein Glas zwischen ihren Fingern und blickte auf den Schimmer von Silber am Horizont.
Davor schwebten Nebelinseln über den schlafenden Hügeln.
Diese warme Nacht ist, dachte Theresa, nicht gemacht, um alleine zu sein.
Sie beobachtete den torkelnden Flug der Lucciole. Die Leuchtkäferchen blinkten wie vom Himmel gefallene Sterne.
Bald nach ihrem Gespräch hatte sie zuerst Maxims Wagen, etwas später auch Fredericos Maschine gehört. Wie immer sorgte sie sich um Frederico und hoffte, dass er vernünftig genug wäre, nicht in betrunkenem Zustand zu fahren.
Ihr Sohn hatte Raffael einen Pferdeburschen genannt.
Sie kannte Raffaels Biographie. Mit sechzehn hatte er den kleinen Hof seiner Eltern verlassen und sechs Jahre lang erst in Australien und später in Neuseeland alles gelernt, was es über Tierwirtschaft, Aufzucht von Pferden, Rindern und Schafen zu lernen gab, einschließlich Milchwirtschaft und Bienenzucht.
Sie lächelte. Er war ihr haushoch überlegen.
Als er zurückkam, hatte er seine Jugendliebe geheiratet, eine Familie gegründet und vier Jahre nach der Geburt seiner Zwillingsmädchen feststellen müssen, dass seine Ehe gescheitert war.
Die Trennung von seinen Kindern hatte er nie verwunden. Sooft wie möglich besuchte er sie. In den Ferien durfte er Giuliana und Gala zu sich holen.
»Was machst du hier, Mama?«
Theresa schrak auf, als sie Konstantin hörte. Sie musste eingeschlafen sein. »Ich genieße die Ruhe und versuche nachzudenken.«
Konstantin zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. »Ich störe dich nicht lange. Annabel erwartet mich. Du solltest auch zu Bett gehen, es ist spät.«
»Manchmal schlafe ich hier draußen. Es ist schön unter den Sternen.«
Wenn er an seine Mutter dachte, sah er sie mit wehenden Haaren, ohne Sattel auf Luna über die Hügel der Maremma jagen. Er war, dank ihr, ein guter Reiter, aber die Begeisterung, die sie beflügelte, fehlte ihm.
»Du wirst deinem Vater immer ähnlicher«, sagte sie.
»Du warst mit ihm glücklicher als mit Maximilian.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Theresa antwortete nicht direkt. Unter dichten Wimpern blickte sie ihn an. »Dein Vater und ich waren nur kurz verheiratet. Die erste Liebe noch nicht vorbei. Ehen entwickeln sich. Es gibt keine Garantien für das Glück und die Liebe.«
»Ich werde Annabel immer lieben«, sagte Konstantin.
Er war ein Kind. Theresa lächelte. »Natürlich wirst du das, mein Schatz.«
»Wir werden heiraten, Mama.«
Oh du meine Güte, sie musste an sich halten, das nicht laut auszusprechen.
»Natürlich«, sagte sie noch einmal, »wenn man sich liebt, will man das der Welt zeigen. Aber das muss ja sicher nicht sofort sein?«
Konstantin