Himmel über der Maremma. Ursula Tintelnot
Mendelssohn. Maria variierte das Thema. Die Töne schwebten in die Nacht hinaus und begleiteten Theresa ein Stück weit.
Madame Durands Blicke begleiteten sie ebenfalls. Sie stand im Zimmer ihres Zöglings am Fenster.
»Theresa besucht Raffael.«
»Vielleicht geht sie zum Stall.«
»Nicht in einem weißen Kleid«, gebärdete Amalia.
So jung und so schlau, dachte Madame.
»Kann man zwei Männer lieben?«
»Ich glaube schon.«
»Ich könnte das nicht!«
»Wir werden sehen, mein Kind.«
Madame strich Amalia über die kurzen Locken. Sie ging zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal um.
»Amalia, Annabel hat nun genug gelitten, ab morgen wirst du dich zu den Mahlzeiten wieder umziehen.«
Amalias Mund verzog sich zu einem spitzbübischen Lächeln.
Amalia nahm Annabel inzwischen hin, wie man eine Topfpflanze akzeptierte. Sie übersah sie einfach. Aber nachdem Annabel unvorsichtigerweise von ihrer ausgeprägten Allergie gegen Pferdehaare gesprochen hatte, war ihre Stunde gekommen. Amalia kam grundsätzlich gerade aus dem Stall, wenn sie sich zu Tisch begaben, und war nicht dazu zu bewegen, sich umzuziehen oder die Hände zu waschen. Annabel sah gleich viel weniger hübsch aus mit roter Nase und geschwollenen Lidern.
»Es ist Zeit fürs Bett. Schlaf gut, Amalia.«
Sie schloss die Tür hinter sich. Madame lächelte, das Mädchen entwickelte sich zu einer raffinierten jungen Frau. Und sie wusste genau, was sie wollte.
Amalia kroch ins Bett und nahm ein Buch vom Nachttisch, aber sie las nicht. Sie dachte an Konstantin.
»Hast du mir was mitgebracht?« Amalia hatte auf ihr Tablet gezeigt.
Konstantin hatte gelacht. »Nein, daran habe ich nicht gedacht.«
Ihr hübscher Mund hatte sich verzogen.
»Hast du denn einen Wunsch?«
»Oh, ja.«, schrieb sie. Augenaufschlag.
»Sag schon, vielleicht kann ich ihn dir erfüllen.«
Sie hatte den Augenaufschlag vor dem Spiegel geübt und sich das Gespräch in allen Einzelheiten vorgestellt. Sie musste nur ein paar Minuten mit ihm allein sein.
Der Moment war gekommen, als er zum Frühstück erschien. Annabel stand nicht vor Mittag auf. Konstantin war, wie Amalia, ein Frühaufsteher.
»Also«, er nahm einen Schluck Kaffee, »was ist es?«
»Ich wünsche mir …« schrieb sie.
»Ja?«
»Ich wünsche mir einen Tag mit dir.«
»Aber ich bin doch hier.« Er sah sie erstaunt und fragend an.
Mein kleiner Milou wird langsam erwachsen, dachte er.
Sie war in die Höhe geschossen im letzten halben Jahr. Trotzdem war sie noch so entzückend kindlich, wie er sie in Erinnerung hatte.
»Das ist nicht wie früher.« Amalia schob ihm das Tablet hin und sah ihn an. »Du bist nicht alleine hier, immer ist Annabel bei dir.«
Er sah sich um. »Und wo ist sie jetzt? Ich kann sie nicht sehen.«
Seine Cousine ging nicht auf seinen Spott ein. Sie starrte ihn immer noch fragend an. Dann schrieb sie: »Schenkst du mir einen Tag?«
Er dachte nach. »Ich schenke dir einen Ausritt, nur wir beide, versprochen.«
Amalia lächelte und überlegte, wie sie den Ausritt verlängern könnte.
Amalia und Konstantin hatten den kleinen Hengst und Luna, seine Mutter, auf der Weide besucht und danach Norma und Sultan gesattelt.
»Nehmt Norma und Sultan«, hatte Theresa gebeten. »Die beiden verwildern auf der Weide. Es ist gut, wenn sie geritten werden.«
»Du hast Sultan noch nicht verkauft?«
»Nein, Konstantin, der Kunde ist nicht erschienen, will aber in ein paar Tagen kommen. Bis dahin muss Sultan noch an die Kandare genommen werden.«
Der dunkelbraune Wallach war ein noch junges, sehr temperamentvolles Tier. Theresa hatte sich vorgenommen, ihn in den nächsten Tagen im Stall zu lassen und ihn jeden Tag zu reiten.
Sie sah Amalia und Konstantin davonreiten. Die Kleine hatte es tatsächlich geschafft, ihn von Annabel loszueisen. Sie fragte sich, wie sie das angestellt hatte.
Vielleicht sollte ich dich fragen, du scheinst geschickter als ich zu sein, dachte sie.
Aber dann schalt sie sich. Ihr Sohn war verliebt. Er wollte dieses Mädchen heiraten. Wenn sie Konstantin nicht verlieren wollte, sollte sie sich an den Gedanken gewöhnen und versuchen, Annabel besser kennenzulernen.
Sie stach mit der Mistgabel heftig in einen Haufen Stroh und verteilte ihn energisch in Sultans Box.
Amalia durfte Sultan reiten. Konstantin ritt die zierlichere Stute. Theresa fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte, als sie es ihr erlaubt hatte. Aber Amalia war eine ausgezeichnete Reiterin, mit einem ausgeprägten Gefühl für Pferde. Sie hatte in den letzten Jahren praktisch jeden Tag auf einem Pferd gesessen, während Konstantin, seit er studierte, nur noch in den Ferien zum Reiten kam.
Bald würde er mit einem Team von Ärzten nach Afrika reisen, um eine Reportage zu schreiben. Was Annabel davon hielt, wusste Theresa nicht. Sie konnte sich die verwöhnte junge Frau nicht in einem Camp vorstellen.
Mit Allergien gegen Tierhaare und Migräneanfällen, dachte Theresa, wirst du nicht weit kommen.
Herrgott, sie klang schon wieder boshaft und ablehnend.
Da Raffael noch ausfiel, er hatte strikte Anweisung, sich zu schonen, wollte sie ihren Sohn fragen, ob er für einen täglichen Ausritt zur Verfügung stand. Mit dem Unterarm wischte sie sich Schweiß und Staub von der Stirn.
Ihr Gesicht glühte, was nicht nur an der Arbeit lag. Ihre Gedanken waren bei der letzten Nacht. Raffael hatte sie ohne Umstände an sich gezogen, den Verschluss ihres Kleides geöffnet und sie geküsst, als ob er sie verschlingen wollte.
Sie träumte nicht von anderen Ländern wie ihre Söhne. Ihre Welt hatte sich verengt auf dieses eine Zimmer, dieses