Das Leben geht immer weiter – irgendwie. Mia Marjanović

Das Leben geht immer weiter – irgendwie - Mia Marjanović


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gehasst. Er brauchte ihr Geld und sie brauchte seinen deutschen Namen. Als ich ankam, waren sie das erste Mal im Leben vereint. Gegen mich! Ich war ein Flüchtlingskind. In der Schule haben wir viel über die UN-Kinderrechtskonvention gelernt, die auch Deutschland unterschrieben hat. Darin heißt es: Wer seine Kinder schlägt, macht sich strafbar. Das habe ich zu Hause erzählt. Das beziehe sich nur auf normale, keine Flüchtlingskinder, lachten sie mich aus. Flüchtlingskinder sind dumm, die muss man schlagen.

      Wie lange bist du bei deiner Tante geblieben?

      Als ich achtzehn wurde, bekam ich meinen deutschen Pass und verließ ihr Haus.

      Was ist mit deiner Tochter passiert?

      Mein Onkel hat das Kind anerkannt und die Tante spielt nach seinen Regeln. Ich kann kommen, wann immer ich will. Vorher muss ich mich allerdings anmelden.

      Warum bist du nicht mit deiner Tochter weggegangen?

      Ohne die Zustimmung meines Onkels? Dann hätte ich Deutschland verlassen müssen.

      Ich bin nur die Mutter eines Kindes, dessen Vater ‚zufällig’ Deutscher ist.

      Wie heißt deine Tochter?

      Ich nenne sie ‚Frühlingsrose’.

      So wie dich deine Eltern nannten? Ach, das hatte ich längst vergessen.

      Wenn du deine ‚Frühlingsrose’ besuchst, was macht ihr dann?

      Wir spielen.

      Was spielt ihr?

      Übliche Spiele, die Tanten und Nichten spielen. Für sie bin ich die Tante aus den Niederlanden.

      Aus den Niederlanden?

      Dort wohne ich. In einem kleinen Dorf. Mit meiner Freundin Agnes. Sie hilft mir … trocken zu bleiben. Ich bin Alkoholikerin. Ich habe auch schon Drogen genommen. Ich war auf dem Strich, habe geklaut … Mein Leben ist ein einziges Chaos. Wenn meine Tochter achtzehn Jahre alt wird, wird sie erfahren, dass ich ihre leibliche Mutter bin. Das haben wir bei einem Notar so vereinbart.

      Wo hast du deine holländische Freundin Agnes kennengelernt?

      Sie ist Künstlerin. Sie fand mich an einem Kanal in Amsterdam völlig betrunken und nahm mich mit zu sich nach Hause. Ein kleines Haus in einem kleinen Dorf. Wie im Paradies! So ist Holland eben. Ein Traum. Ich war mehrere Monate bei ihr. Sie ließ mich in Ruhe. Sie hat nichts gefragt und sie wollte nichts von mir.

      Es ist selten, dass man jemandem wie Agnes begegnet, die so viel Verständnis aufbringt. Sie kannte dich nicht und sie nahm dich doch bei sich auf.

      Sie hat mich ‚erkannt’. Ich war wieder einmal betrunken und sprach irgendwas auf Bosnisch vor mich her. So wie Betrunkene das eben tun. Sie arbeitete mit bosnischen Flüchtlingen – ehrenamtlich. Daher erkannte sie die Sprache, darum erkannte sie mich.

      Seid ihr ein Liebespaar?

      Manchmal. Manchmal ist sie meine Mutter oder auch mein Vater. Manchmal meine Freundin. Sie ist alles … Sie schützt mich. Sie glaubt an mich. Sie sagt: Ich darf weinen, Tränen sind gut für die Seele. Ich habe keine Seele und ich habe keine Tränen. Wenn ich traurig bin, ziehe ich mich zurück, und sie stellt keine Fragen. Ich darf einfach traurig sein. Ich darf Angst haben. Sie sagt, ich müsse mit meiner Traurigkeit und meinen Ängsten leben. Wie es auch die anderen Menschen tun.

      Du magst sie sehr.

      Ja, auf meine Art.

      Vielleicht ist Agnes deine gute Fee.

      Die gute Fee ist längst tot.

      Dann ist es Freundschaft.

      Bei Freundschaften muss man nehmen und geben. Ich bin sehr egoistisch. Sie gibt mir Hoffnung und bekommt von mir im Gegenzug immer nur Scheiße zurück. Sie gibt mir ein Gefühl der Freiheit und Gleichheit, ein Gefühl, das ich nur bei ihr habe. Bei ihr muss ich mich nicht verstellen. Ich darf sein, wer ich bin.

      Das tut dir sicher gut.

      Ich bin gerne bei ihr, aber ich kann einfach nicht lange an einem Ort bleiben. Es wird mir zu eng. Die Leute erkennen mich: Flüchtlingskind! Flüchtlingskind!

      Dabei bist du kein Flüchtling mehr.

      Einmal Flüchtling, immer Flüchtling! Ich gehöre zu keinem Ort. Ich habe kein Zuhause wie die anderen und keine Heimat. Ich bin überall fremd. Manchmal verschwinde ich gen Süden. Ich komme bis zur bosnischen Grenze und dann kehre ich schnell wieder um, sobald ich die Zöllner sehe. Nichts hat sich geändert. Die Polizisten stehen da wie damals, als wir von dort flüchteten. In ganz Europa gibt es keine Grenzen, keine Polizisten, keine Zöllner, nur dort an der bosnischen Grenze. Sind die Menschen in Bosnien vielleicht in einer anderen Zeit gefangen? Kann sich dort nichts ändern?

      Sie machen einfach ihre Arbeit. Zu uns waren sie nett.

      Sie können machen, was sie wollen. Wo immer ich hingehe, bleibe ich allein. Meine Eltern liegen in Spandau begraben. Meine Großeltern sind im Krieg getötet worden. Meine Tochter gehört mir nicht. Die Zeit vergeht und irgendwann bin ich nicht mehr da. Ich werde keine Spuren hinterlassen.

      Deine Tochter ist doch eine Spur.

      Ja, sie ist eine Spur. Und: Der Beweis!

      Bojana, 25 Jahre

      Flüchtlingskinder werden zu keiner Geburtstagsparty eingeladen

      Lange ist es her.

      20 Jahre.

      Ich war damals fünf Jahre alt. Als der Krieg ausbrach, war ich gerade mal drei.

      Erinnerst du dich?

      Nein, wie könnte ich?

      Es gibt Ereignisse, die wir, auch wenn wir noch ganz klein sind, in der Erinnerung bewahren. Manchmal erinnert man sich erst als Erwachsener, was einem mit drei Jahren widerfahren ist.

      Nur wenn man will.

      Willst du dich nicht erinnern?

      Ich erinnere mich an den Moment, als mein Vater, der Soldat, plötzlich bewaffnet in unserem Wohnzimmer stand. Meine Mutter schrie ihn an, fragte, was er da mache, bewaffnet vor dem Kind. Ich erschrak und weinte. Mein Vater schrie zurück: Siehst du, was du dem Kind antust? Siehst du, was du machst, schrie er sie an und nahm mich auf den Arm. Er wollte mich beruhigen, aber ich bekam nur noch mehr Angst. Ich weinte, genau wie meine Mutter. Er setzte mich auf den Boden und ging. Erst später habe ich es verstanden: Mein Vater hatte sich den serbischen Milizen angeschlossen und kämpfte gegen Muslime! Davor hatte meine Mutter Angst.

      Warum?

      Warum? Sie ist selbst eine Muslima!

      Das war hart.

      Alles in meinem Leben ist hart.

      Wir waren wegen deinen kurzen Haaren überrascht. Früher waren sie sehr lang.

      Das mag ich nicht mehr. Ich möchte unauffällig bleiben.

      Warum möchtest du das?

      Ich mag keine Kontakte. Ich bin Flüchtling! Ich meide die Menschen.

      Warum?

      Sie mögen keine Flüchtlinge. Flüchtlinge lügen und betrügen.

      Kommst du mit anderen Menschen nicht klar?

      Doch, aber ich brauche keine Menschen.

      Wie kann man ohne Menschen leben?

      Wenn man will, geht das. Ich habe kein Vertrauen zu anderen Menschen. Mein eigener Vater hat mich verraten und im Stich gelassen.

      Wie hat dich dein Vater verraten?

      Kurz nach dem Kriegsende besuchte uns ein unbekannter Mann. Er kam angeblich aus Sarajevo und hatte einen Brief meines Vaters bei sich. Im Brief stand, dass er sich von meiner Mutter scheiden lassen wolle. Sollte sie sich weigern, wolle er sie wegen Kindesentführung verklagen. Sollte sie einverstanden sein


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