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möchte lieber nicht darüber reden.

      Wie lange seid ihr in Sarajevo geblieben?

      Nicht lange. Es war nach etwa drei Monaten, da wollte ich eines Abends ins Bett gehen. Meine Mutter sagte aber, ich solle mich so anziehen, als ob wir ins Theater gingen.

      Wie meinst du das?

      Ich sollte schön aussehen. Also bin ich angezogen ins Bett gegangen. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte.

      Und was hatte es zu bedeuten?

      Die Flucht nach Berlin.

      Wie war das möglich?

      Wenn man Geld hat, ist alles möglich.

      Von wem hattet ihr das Geld?

      Das weiß ich nicht. Meine Mutter sagte, ich solle nicht fragen. Ich wusste, es war gefährlich.

      Was war gefährlich?

      Nach Berlin zurückzukehren. So viele Grenzen! Sie konnten uns jederzeit wieder abschieben. Wie Kriminelle! Wir waren nicht die Einzigen, viele waren unterwegs. Manche sind nach Holland gegangen, manche in die nordischen Länder, Schweden, Norwegen. In Deutschland wollten sie uns nicht haben.

      Warum nicht?

      Der Krieg war vorbei. Wir sollten das zerstörte Land aufbauen.

      Das verstehe ich.

      Ich konnte es nicht verstehen. Ich wollte in die Schule. Wie kann ein Kind ein Land aufbauen? Außerdem wollte ich Erzieherin werden, keine Häuser bauen. Und die Sprache sprach ich auch nicht.

      So schnell hast du deine Muttersprache verlernt?

      Meine Mutter war Lehrerin. Sie unterrichtete Mathematik und Biologie und meinte, das könne sie auch in Deutschland jederzeit tun. Sie hat Deutsch gelernt und hat mit mir nur Deutsch gesprochen. Sie wollte ein neues Leben anfangen. Sie wollte arbeiten, Geld verdienen. Wie all die anderen.

      Hat sie es geschafft?

      Nein, Flüchtlinge durften kein Geld verdienen.

      Auch nicht arbeiten?

      Sie durften zwar arbeiten, aber sie wurden nicht bezahlt.

      Was hat deine Mutter gemacht?

      Sie hat ehrenamtlich gearbeitet. Sie wollte zeigen, dass sie ein wertvoller Mensch ist und dass sie es verdient hat, hier zu leben. Ihr Traum war, wieder in der Schule zu unterrichten.

      Hast du auch Träume?

      Ich hatte damals Träume, ja.

      Von was hast du geträumt?

      Ich habe immer geträumt, dass ich einen deutschen Pass habe und dass ich verreisen kann.

      Konntest du mit deinem bosnischen Pass nicht verreisen?

      Soll das ein Witz sein?

      Nein, das ist eine ernste Frage.

      Wir durften nicht einmal nach Potsdam fahren. Flüchtlinge durften den Ort nicht verlassen, wo sie registriert sind.

      Und wenn sie das taten?

      Das ist gesetzwidrig.

      Sie machen sich also strafbar.

      So ist es.

      Was war die Strafe dafür?

      Manchmal eine Geldbuße, manchmal die Abschiebung. Ich habe von verschiedenen Fällen gehört.

      Wohin wolltest du verreisen?

      Nach Australien.

      Warum nach Australien?

      Ich hatte gehört, dass da die Leute viel freundlicher zu den Flüchtlingen sind.

      Was hast du als Flüchtlingskind vermisst?

      Alles.

      Du bist doch in die Schule gegangen.

      Ja.

      Was hast du nach der Schule gemacht?

      Gelesen.

      Was noch?

      Wenn ich ein Buch ausgelesen hatte, ging ich in die Bibliothek, um ein neues zu holen. Ich wollte Klavier spielen, aber meine Mutter konnte den Klavierunterricht nicht bezahlen. Ich spielte Flöte und Gitarre in der Schule.

      Was hast du also am meisten vermisst?

      Freunde. Eine Wohnung mit eigener Toilette und eigener Küche.

      Freunde konntest du doch haben.

      Wo konnten mich diese Freunde besuchen? In meinem Zimmer im Heim? Keiner wusste, wo ich wohne, keiner wusste, dass ich ein Flüchtling bin.

      Warum hast du das geheim gehalten?

      Weil ich mich schämte.

      Warum hast du dich geschämt?

      Warum? Warum? Ich wollte, dass sie mich in Ordnung finden!

      Es ist doch kein Verbrechen, Flüchtling zu sein.

      Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie sich die anderen Kinder gegenüber Flüchtlingskindern benehmen?

      Keine genaue.

      Sie lachen sie aus, sie zeigen mit dem Finger auf sie. Flüchtlingskinder werden zu keiner Geburtstagsparty eingeladen.

      Wurdest du eingeladen?

      Ja.

      Na also.

      Weil keiner wusste, dass ich ein Flüchtling war.

      Wo hast du dann zu deinem Geburtstag die Kinder hin eingeladen?

      Gar nicht.

      So was geht?

      Ich wurde im Sommer geboren, dann sind alle normalen Menschen im Urlaub. Sie dachten, ich auch.

      Wie seid ihr nun zum zweiten Mal nach Berlin geflüchtet?

      Uns haben Leute geholfen, die Menschen für viel Geld nach Deutschland schleusen.

      Wo kamen diese Leute her?

      Sie haben alle Deutsch geredet.

      Wie sah die Reise aus?

      Wir hatten Pässe von fremden Menschen und so sind wir über alle Grenzen gekommen. Ich hieß Katja und musste die ganze Zeit schlafen.

      Was für ein Gefühl war es: Wieder in Berlin?

      Anna hat uns geholfen. Wir waren bei ihr versteckt. Meine Mutter sagt, dass sie uns ein zweites Leben geschenkt hat.

      Wie lange wart ihr untergetaucht? Was war mit der Schule?

      Es waren Sommerferien. Ich war zu Hause. Anna hatte einen schönen Garten. Meine Mutter ging jeden Tag weg und blieb mehrere Stunden fort.

      Wo war sie?

      Wie immer sagte sie, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie sei auf der Suche nach einer Wohnung.

      Hast du ihr geglaubt?

      Warum sollte ich nicht?

      Ihr seid hier doch illegal gewesen.

      Einmal kam sie schnell zurück und war sehr aufgeregt. Sie sagte, sie möchte etwas Wichtiges mit mir besprechen. Im Park, da höre es keiner. So saßen wir auf einer Bank im Viktoriapark in Kreuzberg. Ein paar Meter von uns entfernt saß auf einer anderen Bank ein Obdachloser. Sie zeigte auf ihn. Diesen Mann werde sie heiraten, sagte sie. Wenn ich nicht wolle, müssten wir weiter nach Norden ziehen. Ich wollte diesen Obdachlosen nicht. Er stank. Aber ich wollte auch nicht nach Norden ziehen, da gefiel es mir nicht. Ich weinte und meine Mutter beruhigte mich. Jeder Mensch stinke, wenn er nicht duscht. Wir seien auch obdachlos. Sie fasste meinen Kopf zärtlich mit ihren Händen und sagte: Wenn du es nicht willst, mache ich es nicht.

      Sarajevo war auch eine Möglichkeit.

      Nein, da war alles zerstört, die Häuser und die Straßen.


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