Das Leben geht immer weiter – irgendwie. Mia Marjanović

Das Leben geht immer weiter – irgendwie - Mia Marjanović


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sie es getan?

      Was blieb ihr denn anderes übrig? Ein Flüchtling muss das machen, was von ihm erwartet wird. Du darfst nicht auffallen. Du lebst nicht dein eigenes Leben.

      Habt ihr erfahren, warum er das getan hat?

      Gute Frage. Er hat eine andere Frau gefunden! Meine Mutter hatte mit mir, angeblich gegen seinen Willen, das Land verlassen. Sie habe mich entführt, um sich an ihm zu rächen. Was für ein Witz! Wir hatten Krieg und er wollte nicht mit.

      Ich erinnere mich, damals rief er aus Sarajevo oft an.

      Dann weißt du auch noch, dass sie sich immer gestritten haben. In dem Brief schrieb er, es seien Zeiten angebrochen, in denen jeder seinesgleichen finden muss. Er hätte einen großen Fehler gemacht, als er sie geheiratet hat. Schon vor meiner Geburt hätten sie über meinen angeblich bosnischen Namen gestritten.

      Dann kam das alles für deine Mutter aber nicht ganz unerwartet.

      Eine Scheidung kommt immer unerwartet. Er meinte, ihre Ehe sei ein Kompromiss und er könne nicht sein ganzes Leben lang Kompromisse eingehen.

      Wie hat deine Mutter darauf reagiert?

      Sie las den Brief und weinte. Dann las sie ihn abermals und weinte. Dieser ‚Scheißkerl’ hat sie kaputt gemacht. Sie rauchte, sie trank, sie verfiel in große Depressionen. Sie hasste mich und sie liebte mich. Sie bestrafte mich, wenn z. B. mein Kleid schmutzig war. Danach kuschelte sie mit mir und entschuldigte sich.

      Das ist eine schmerzhafte Erfahrung für ein Kind. Wie alt warst du?

      Sieben vielleicht.

      Wie hast du dich da gefühlt?

      Ich habe mich erstmal für meinen Vater geschämt. Danach begann ich, ihn zu hassen. Meine Mutter sagte, ich müsse ihn nicht mögen, aber ihn hassen solle ich auch nicht. Hass sei nicht gut. Man merkt, wie der Hass einen verändert. Wer die anderen hasst, kann sich selbst auch nicht mögen.

      Diese Erfahrung machen viele Leute.

      Sie verteidigte ihn, und das war für mich sehr schlimm.

      Wie hat sie ihn verteidigt?

      Sie rechtfertigte, was er getan hat.

      Was hat sie dir erzählt?

      Sie hat mir erzählt, dass er schon immer ein Muttersöhnchen gewesen sei und dass seine Familie, besonders seine Mutter, sie nie gemocht habe. Weil sie studierte und er nicht und weil sie eine Türkin sei.

      Ich wusste nicht, dass deine Mutter eine Türkin ist.

      Ist sie auch nicht. Sie wurde nur so bezeichnet, weil sie Muslima ist.

      Deine Mutter hatte es also immer schwer mit deinem Vater.

      Er hat uns unser Haus weggenommen.

      Welches Haus?

      Das Haus in Sarajevo, das meine Großeltern meiner Mutter geschenkt hatten, noch bevor sie ihn überhaupt kannte.

      Wie konnte er euch das Haus wegnehmen?

      Er nannte es ‚Tausch’. Er bekommt das Haus und sie bekommt das Kind – mich!

      Deine Mutter hat sich für ihr Kind entschieden. Hast du danach deinen Vater je wieder getroffen?

      Als meine Mutter alles unterschrieben hatte, erfuhren wir, dass er in Berlin lebt. Meine Mutter war außer sich. Anna tröstete sie.

      Welche Anna?

      Von der Kirche. Sie hat uns damals sehr viel geholfen. Sie meinte, dass sich die Männer im Krieg seelisch so verändern würden, dass sie manchmal nicht sie selber seien. Lass ihm Zeit, sagte sie, um die Gräuel des Krieges zu verarbeiten. Sie ließ ihm einige Monate Zeit. Dann, an einem Samstag, als ich nicht in die Schule musste, holte sie unsere schönsten Kleider aus dem Schrank und wir fuhren in den Wedding. Dort wohnte er. Sogar sein Name stand an der Tür. Unser Name. Sie klingelte und die Tür ging auf. Ich hatte Angst und spürte ihre, die nicht geringer war. Eine junge Frau erschien an der Türschwelle. Sie war schwanger. Meine Mutter entschuldigte sich für die Störung und sagte, sie möchte bitte ihren Mann sprechen. Die junge Frau sagte, da wohne nur ein Mann, und zwar ihrer. Er schlief und sie wollte ihn nicht wecken. In diesem Moment tauchte mein Vater hinter ihr auf. Ich hasste ihn, aber als ich seine Gestalt sah, spürte ich auf einmal eine so große Freude, die ich mir auch heute noch nicht erklären kann. Papa, sagte ich. Er guckte mich nicht einmal an. Ihr habt hier nichts verloren, sagte er. Verschwindet! Meine Mutter nahm mich wortlos an die Hand und zog mich hinter sich her. Wir rannten auf die Straße. Ich schämte mich vor ihr und sie sich vor mir. Das werde ich nie vergessen.

      Das kann man ja auch nicht vergessen.

      Ich denke fast jeden Tag an dieses Erlebnis.

      Wie habt ihr euren Aufenthalt geregelt?

      Der Krieg war vorbei. Bosnische Flüchtlinge mussten in ihre Heimat zurück. Wir waren die ersten Flüchtlinge, die abgeschoben wurden.

      Wann?

      Ich war damals in der 3. Klasse. Ich kam aus der Schule zurück, und zu Hause wartete meine Mutter mit zwei Polizisten. Sie hatte schon gepackt. Alles ging sehr schnell. Zuerst zum Flughafen Schönefeld und am nächsten Tag waren wir bereits in Sarajevo. Sarajevo sah wie Hiroshima aus.

      Nach der Atombombe?

      Ja, die Fotos haben sie uns in der Schule gezeigt. Ich weinte. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen. Nur, wie sollte ihr das gelingen? Alles war so dreckig. Und wen hatten wir denn in Sarajevo? Niemanden! In Berlin wollten sie uns nicht haben. Aber auch in Sarajevo waren wir immer an der falschen Adresse. Gibt es eine richtige Adresse für uns, fragte meine Mutter, und der Beamte erwiderte: Gnädige Frau, das hätten Sie sich früher überlegen sollen, bevor sie in den Westen abgehauen sind. Was wollt ihr von uns, fragte meine Mutter genervt. Und was wollt ihr von uns, fragte der Beamte zurück.

      Gab es keine Unterkünfte für die Zurückkehrenden?

      Ihr seid so naiv. Sollten sie für uns ein Empfangskomitee organisieren? Wisst ihr, wie viele Flüchtlinge abgeschoben wurden? Hunderte, dann Tausende aus ganz Deutschland, alle nach Sarajevo. Es war egal, wo sie vor dem Krieg gewohnt hatten.

      Ihr habt doch nicht auf der Straße geschlafen?

      Wir nicht. Meine Mutter hatte eine Tante in der Altstadt von Sarajevo. Sie hatte den Krieg dort überlebt. Ihre zwei Söhne nicht. Es war nicht einfach, bei ihr Hilfe zu suchen. Wir waren in Sicherheit und am Leben, ihre Söhne aber waren tot. Sie hat uns dann doch aufgenommen. Die anderen waren nicht so freundlich zu uns. Sie meinten, wir wären geflohen, während sie den Krieg zu Hause durchlitten hätten, und jetzt wären wir zurück und hätten viel Geld.

      Hattet ihr Geld?

      Woher denn?

      Vielleicht hat deine Mutter gearbeitet?

      Sie hat dafür kein Geld bekommen. Das war ehrenamtlich. Trotzdem waren fast alle böse auf uns. Meine Mutter hat mich getröstet. Mach dir keine Sorgen, sagte sie, wir werden bald nach Hause zurückkehren.

      Wo war euer Zuhause?

      In Berlin.

      Was hatte sie denn vor?

      Sie wollte nicht darüber reden. Sie sagte, du bist das Kind, ich bin die Mutter. Jeder trägt seine Last …

      Was war deine Aufgabe?

      Lernen.

      Bist du wieder in die Schule gegangen?

      So schnell kam man nicht in die Schule. Auch hier in Berlin nicht.

      Wie hast du dann gelernt?

      Aus den Büchern, die meine Mutter für mich aus Berlin mitgebracht hatte.

      Und du hast immer genau das getan, was deine Mutter sagte.

      Ja, das habe ich. Meine Mutter hat mich nie im Stich gelassen. Anders als mein Vater und so viele andere.

      Wer


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