Der verborgene Erbe. Billy Remie

Der verborgene Erbe - Billy Remie


Скачать книгу
auflauern sollte.

      Als dann ein weiterer Blitz den Raum erhellte, sah Desiderius es.

      Oder besser gesagt, sah er ihn.

      Erschrocken zuckte er bei dem Anblick des Umrisses zusammen. Ein großer Mann stand vor den Vorhängen des Balkons, die Blitze hinter den Fenstern beleuchteten gelegentlich seine muskulöse Gestalt, jedoch war außer seiner Statur nichts von ihm zu erkennen. Er war wie ein Schatten. Der Schatten eines Mannes, der keinen Körper mehr besaß.

      Desiderius blinzelte, in der Hoffnung, die Erscheinung möge verschwinden. Doch er konnte spüren, dass der Schatten blieb, noch bevor er die Augen wieder öffnete, um sich davon zu überzeugen.

      »Wer bist du?«, fragte er halblaut. Seine dunkle Stimme war rau vom tiefen Schlaf und bebend vor Nervosität. Ihm gefiel die Präsenz nicht, die von dem Schatten ausging. So fremd, und doch seltsam vertraut. Als würde man nach Jahrzehnten einem alten Freund gegenüberstehen, den man längst vergessen hatte, dem man sich urplötzlich jedoch wieder nahe fühlte, als wäre kaum ein Tag seit dem letzten Wiedersehen vergangen.

      Desiderius überlegte bereits fieberhaft, ob es ihm gelingen würde, herum zu wirbeln und nach seinem Schwert zu greifen, das in der Nähe seiner Bettseite an einem Sessel lehnte, der hervorragend als Rüstungsablage diente, wenn er sich abends auszog, um zu Cohen unter die Decken zu schlüpfen.

      Als hätte der Schatten seine Gedanken erraten, schüttelte er im Licht eines Blitzes warnend den Kopf.

      Desiderius fuhr zusammen, als plötzlich eine Fackel im Raum ohne sein Zutun aufflammte und seine Gemächer erhellte. Sie hing an der Tür, ihre warmen Flammen zuckten und warfen bewegte Schatten an die nackten Wände.

      Als er sich wieder zum Fenster wandte, war der Schatten plötzlich verschwunden. Aufgebracht sah er sich um, zweifelte bereits an seinem Verstand. Vielleicht hatte er sich den Umriss im dunklen Zimmer auch nur eingebildet. Vielleicht hatte er geschlafen, und war gerade erst erwacht. Wie so oft, musste er vergessen haben, die Fackel an der Tür zu löschen, nachdem Cohen und er getan hatten, was sie gerne bei Licht zusammen taten.

      Desiderius wollte gerade aufstehen, um das Zimmer in Dunkelheit zu hüllen, als er den Schatten wieder erblickte.

      Er stand in der offenen Tür, hinter der ein dunkler Gang in eine tiefe Schwärze führte, die endlos zu sein schien. Der Schatten nickte in die Dunkelheit und bedeutete ihm, ihm durch den Flur zu folgen.

      Für einen Moment starrte Desiderius dem dunklen Umriss nach, bis dieser im Gang mit der Finsternis verschmolz und verschwand. Ein Ruck ging durch ihn durch, als die Neugierde über die Vorsicht siegte. Doch sorglos folgte er nicht, dafür hatte er in seinem Leben genug gelernt. Er warf sich seinen schweren Morgenmantel über und zerrte ihn mit dem Waffengürtel zusammen, an dem sein Schwert hing.

      An der offenen Tür nahm er die Fackel aus der Vorrichtung und folgte dem Schatten.

      Die Flure und Treppen der Festung waren verlassen und totenstill in der Nacht. Alle schliefen noch tief und fest, Menschen wie Tiere, selbst die Mäuse im Gemäuer schienen zu schlummern.

      Es war die Stunde der Geister, so tief in der Nacht, dass kaum ein sterbliches Wesen im wachen Zustand war. Es war unheimlich, durch die Festung zu wandern, und nichts zu hören oder zu sehen. Sämtliche Lichtquellen waren versiegt, und wo Fackeln brennen sollten, erloschen die Flammen an den Wänden wie von Geisterhand, als der Schatten an ihnen vorrüberging.

      Desiderius folgte stumm, aber trotz steigender Unruhe, empfand er keine Angst. Er hatte mittlerweile so häufig gegen Dämonen gekämpft, dass er beinahe sicher war, einen zu erkennen, wenn er einem begegnete.

      Doch der Schatten, der ihn führte, schien weder sterblich noch dämonisch zu sein.

      Desiderius wurde in das Gewölbe tief unter der Erde geführt, wo die Hitze des Sommers niemals hingelangen konnte. Die Kälte aus dem Fels, in den die Festung gehauen worden war, hatte hier unten schon lange die Herrschaft übernommen. Nebliger Atem kam stoßweise aus seinen halb geöffneten Lippen und leicht geblähten Nasenflügeln, während er vorsichtig immer weiter die steinernen Stufen einer gewundenen Treppe hinabstieg.

      Der Schatten führte ihn immer tiefer in die Eingeweide der alten Festung, in Gänge, die schon so lange niemand mehr passiert hatte, dass Desiderius sich mittels Fackel einen Weg durch die dichten Spinnenweben bahnen musste. Vorbei an Bibliotheksräumen, die, je weiter er ging, mit immer älteren Schriftrollen vollgestopft waren. Er leuchtete gelegentlich in einen der Räume und betrachtete die fast zu Staub verfallenen Rollen. Ehrfurcht stellte sich bei ihm ein, als er daran dachte, wie viel Geschichte die Festung beherbergte. Die Geschichte seines Volkes, die Geschichte vieler großer Könige.

      Und alle waren Wexmells Vorfahren gewesen.

      Der Schatten führte ihn in einen weit hinten gelegenen Raum eines langen, tunnelförmigen Flures. Als Desiderius sich unter der niedrigen Tür durchgeduckt hatte, beleuchtete er den großen Bibliotheksraum mit der Fackel. Er staunte nicht schlecht über die gut erhaltenen Schriftrollen in den morschen Holzregalen, die zu mehreren hohen Reihen wie Raumteiler aufgestellt waren. Langsam durchschritt er die Reihen auf der Suche nach dem Schatten, hier und dort blieb er stehen um einige Schriften zu begutachten. Ein blauer Nebelschleier umgab sie. Es war Magie, die diese Schriften erhielten.

      Schnell zog er die Finger zurück, als ihm dies bewusstwurde. Er konnte nicht ahnen, welche Art Magie auf diesen Rollen lag, aber wenn es sich um Schutzzauber handelte, wollte er sie lieber nicht berühren und riskieren, sich zu verletzen. Magie war ihm nach wie vor unheimlich, und er würde ihr stets mit gesundem Argwohn begegnen.

      Er drehte sich herum und suchte nach links und rechts die Regalreihe ab. Der Schatten stand am Ende des Gangs an einer Wand und nickte ihn wieder zu sich.

      Desiderius folgte ihm schweigend. Mit behutsamen Schritten ging er den Gang hinunter und bog am Ende nach rechts ab. Der Schatten stand nun vor einer Wand und streckte den langen Arm aus.

      Langsam ging Desiderius auf ihn zu, je näher er mit der Fackel kam, je mehr hoffte er, das Gesicht seines stummen, nächtlichen Besuchers zu erkennen.

      Je näher er kam, je unwohler wurde ihm, und als er schließlich unmittelbar vor den Mann trat, blickte er leichenblass in sein eigenes Gesicht.

      Der vermeidliche Schatten sah ihm ohne seelische Regung entgegen, er wartete, bis Desiderius sich soweit gefangen hatte, dass er wieder aufnahmefähig war, und deutete schließlich erneut auf das, was er Desiderius zeigen wollte.

      Nur widerwillig riss sich Desiderius von seinem eigenen Gesicht los, hielt den Schatten für einen Geist, der keine eigene Gestalt besaß und deshalb seine benutzte. Trotzdem war ihm unwohl dabei, in sein eigenes Gesicht zu blicken.

      Seine Augen folgten dem Fingerzeig des Schattens voller Unbehagen.

      Zwischen zwei Regalen fand Desiderius, worauf der Schatten deutete. In die Wand war eine dunkle, morsche Holztür eingefasst. Unter ihrem Schlitz strahlte grelles Licht hindurch, wie er es noch nie gesehen hatte.

      Wie magisch angezogen ging er auf die Tür zu, der Schatten war vergessen. Alles, woran er dachte, war das, was hinter der Tür verborgen sein mochte. Es war für Desiderius, als sähe er sich selbst deutlich verlangsamt dabei zu, wie er die Hand ausstreckte und wie gelenkt von einer anderen Macht den runden goldenen Türknauf umfasste und drehte. Die Scharniere der Tür kreischten wie eine Irrlichtmutter, als er sie schließlich aufzog. Doch noch bevor er sie gänzlich aufgemacht hatte, traf eine Druckwelle auf die Tür und warf sie mit einem gewaltigen Ruck auf, sodass er zurücktaumelte und die Arme hochriss, als das grelle Licht dahinter ungehindert auf ihn traf und ihn in ein gleißendes Inferno hüllte, das ihn augenblicklich verschlang …

      ***

      Schweißgebadet fuhr er aus dem Schlaf, kerzengrade saß er zwischen zerwühlten, feuchten Laken. Er schluckte hart zwischen zwei japsenden Atemstößen. Nur langsam erholte er sich von seinem intensiven Alptraum. Strähnen seines dunklen Haars klebten ihn auf seiner vom Schweiß nassen Stirn. Desiderius strich sie zurück, während er versuchte, seinen Atem zu kontrollieren, was ihm


Скачать книгу