Der verborgene Erbe. Billy Remie
jene schlechten Gedanken in Cohens Bewusstsein, er sei nur eine Ablenkung, ein netter Zeitvertreib. Möglicherweise lag dies daran, dass er sich selbst nicht sonderlich wertschätzte. Also konnte er Desiderius wohl kaum einen Vorwurf machen. Das würde er auch nie tun. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er enttäuscht war und an Desiderius‘ Gefühlen zweifelte.
Das heiße Bad und das Blütenöl, dass er nach Rezept seiner Mutter selbst herstellte, hatten seine Haut weich und wohlduftend gemacht, sodass es ihm wie eine Misshandlung vorkam, sich jetzt in die rauen Unterkleider zu zwingen. Aber die Pflicht rief ihn, er war schon spät dran. Er legte die Augenklappe an, weil er niemanden seine Narbe zeigen wollte, und ging durch die Flure zu seinem Schlafgemach, das er ohnehin selten benutzte – nur um sich für das Training anzukleiden – da er die meisten Nächte von Desiderius in dessen Bett gelockt wurde.
Als Cohen die massive Holztür öffnete, stach ihm umgehend etwas ins Auge, das nicht in diesen Raum gehörte. Zumindest war es noch nicht anwesend gewesen, als er zuletzt nachgesehen hatte. Auf seinem Bett, auf dem seine Rüstung bereitlag, die er sich aus der verfluchten Dorfkirche am Östlichen Fluss angeeignet hatte, entdeckte er auch ein langes, in Leder gehülltes Geschenk. Eine einzelne orangefarbene – seine Lieblingsfarbe – Lilie lag darauf, und gab Aufschluss, von wem die Gabe kam.
Kopfschüttelnd trat Cohen in seine sonnenlichtgefluteten Gemächer und schalte sich einen Narren, weil er Desiderius anlasten wollte, ihn nicht wie einen Geliebten zu behandeln, nur weil er morgens lieber die Übungsplätze aufsuchte, statt noch eine Weile mit ihm zu verbringen. Dabei war Desiderius nicht im Geringsten rücksichtslos oder kalt gegenüber Cohens Gefühlen, er war einfach pflichtbewusst und in großer Eile.
Der Krieg wartete auf niemanden, irgendwann würde er sie einholen, wenn sie ihm nicht entgegentraten. Das war alles, was Desiderius umtrieb. Würde Cohen ihm nichts außer die Befriedigung seiner Bedürfnisse bedeuten, würde Desiderius ihn wohl kaum jede Nacht nach dem Beischlaf in seine Arme ziehen und festhalten. Er würde auch die Abende nicht mit ihm verbringen, oder sich auf seine stille Weise für sein Verhalten entschuldigen.
Cohen trat an das Fußende des großen Bettes heran und nahm die Lilien in die Hand, er schnupperte kurz daran, liebte diesen lieblichen Duft, der seine Sinne berauschte. Behutsam legte er die verletzliche Blüte Beiseite, nahm sich vor, sie in Wasser zustellen, um länger davon zu haben, und griff nach dem in ledergehüllten Paket. Es war sehr lang und an einer Seite leicht gebogen, die Form verriet ihn bereits, was es sein könnte.
Lächelnd wickelte er den Langbogen aus, umgehend leuchteten seine Augen voller Ehrfurcht. Er drehte die Waffe herum und fuhr mit den Fingerspitzen über das schwarze Holz, in das liebevolle Handarbeiten eingekerbt waren. Es musste lange gedauert haben, diesen einzigartigen Bogen anzufertigen, weshalb er nun auch verstand, warum Desiderius die letzten Wochen viel Zeit in der Werkstatt verbracht hatte.
Während Cohen den Bogen eingehend betrachtete und bereits befürchtete, es nicht übers Herz zu bringen, ihn im Kampf zu benutzen, bemerkte Cohen abgesehen von den filigranen Mustern im Holz eine Gravierung im inneren Griff.
Dort stand feinsäuberlich: Weil ich dich brauche. In Liebe, Desiderius.
Cohen biss sich glücklich lächelnd in die Unterlippe, vergessen war die Enttäuschung, das Desiderius nicht noch eine Weile mit ihm gebadet hatte, zurück blieb nur ein warmes Gefühl in der Herzgegend, während Cohen an seinen Blutdrachen dachte.
»Du romantischer Drecksack«, sagte er halblachend, »du hast es mal wieder geschafft.«
Von draußen vom Hof her erklang Jubel. Cohen legte den Bogen behutsam auf das Bett und sah nach, was die Männer plötzlich in derartige Hochstimmung brachte. Seit Wochen herrschten Zweifel und Frustration auf der Festung. Zwiespalt hatte sich ausgebreitet, während die einen Eagle als Befreier feierten, begegneten die anderen ihn mit Argwohn, weil er weiterhin der Sohn der Verräterin blieb. Und Eagle war noch nicht bereit gewesen, zu seinen Männern zu sprechen. Cohen und Desiderius hofften seit Tagen darauf, Eagle würde sich seinen Männern endlich zeigen.
Doch als Cohen an sein Fenster trat und von der oberen Festung hinab auf die Übungsplätze blickte, war von Eagle nichts zu sehen. Dafür erkannte er recht schnell den Grund für die gute Laune unter den Soldaten.
Desiderius und Bellzazar waren in ein Duell verstrickt, wie man es nur auf dieser Festung geboten bekam. Magisch leuchtende Schwerter durchschnitten die Luft, Feuerbälle flogen herum, wendige Muskeln spielten unter Stoff- und Lederrüstungen, während zwei große Männer einander attackierten. Selbst von hier oben aus konnte Cohen das kindische, freche Lächeln erkennen, das auf beiden Gesichtern lag. Wie zwei junge Wölfe rauften die beiden Urgewalten miteinander, sie schenkten sich nichts.
Cohen hätte all sein Vermögen – nicht, das er etwas Wertvolles besaß, abgesehen von seinen Waffen und seiner Rüstung – auf seinen Blutdrachen gesetzt, doch Bellzazar forderte Desiderius alles an Können ab.
Letztlich wurde Bellzazar jedoch besiegt – und sei es nur vorgetäuscht, um den Soldaten Hoffnung zu schenken. Desiderius wich einer Feuerkugel aus, warf sich nach vorne, zog Bellzazar die Beine weg und beförderte ihn auf den Boden. Die Soldaten verstummten und hielten die Luft an. Mit einem lauten Krachen kam der Dämon auf dem Rücken zum Erliegen, Staub wirbelte auf, Desiderius trat ihm das Schwert aus der Hand und stellte einen Fuß auf seine Brust.
Mit einem Triumphgeschrei streckte der Blutdrache das Schwert gen Himmel, sofort bejubelten ihn die Soldaten.
»Seht ihr!«, brüllte Desiderius den Männern entgegen. »Er ist nicht unbesiegbar. Wenn ich das kann, könnt ihr das schon lange. Kommt her! Kommt her und übt mit uns, auf dass wir den Dämonen das Fürchten lehren. Denn wir sind Luzianer, und wir sind die Unbesiegbaren!«
Erneuter Jubel brach aus, dann schwärmten die Soldatenreihen aus, um mit den beiden Urgewalten für einen Kampf zu üben, den viele von ihnen nicht überleben werden.
Aber obwohl das Wissen darum in den Köpfen aller war, gelang es Desiderius, ihnen den Mut zu schenken, den sie brauchten, um mit Kampfeswillen in die Schlacht zu ziehen.
Das war es, was einen guten Kommandanten ausmachte. Cohen bemerkte immer wieder, dass Desiderius der geborene Heerführer war. Er erreichte die Herzen der Männer, er war einer von ihnen, er wusste, was sie fühlten, was sie hören mussten, und die Soldaten bewunderten ihn für seinen Mut und seine Stärke. Cohen fühlte es ihnen nach. Wenn er jemandes Fähigkeiten vertraute, dann denen des Blutdrachen. Von Beginn an.
Während Cohen seinen Liebsten einen Moment betrachtete, schien Desiderius zu spüren, dass er beobachtet wurde. Er sah sich zwischen zwei Übungen um und entdeckte Cohen am Fenster. Sofort leuchteten seine Augen glücklich auf, er lächelte und zwinkerte ihm verstohlen zu.
Cohen musste unwillkürlich zurück lächeln.
»Elgouo Joif udmmf zofjf, Hosiorfou«, flüsterte der Drache.
Unsere Zeit kommt jetzt, Geliebter.
Geliebter! Und nicht mehr nur Flüsterer!
Ja, dachte Cohen und nickte. Und an jenem Morgen hegte er keinerlei Zweifel mehr daran, dass Desiderius‘ Liebe zu ihm wahrhaftig war.
4
Das Schlagloch auf der Straße drohte die Achse des linken Rads zu brechen, obwohl die Zugpferde nur im leichten Trab die Kutsche über die Straße zogen. Wexmell hatte sich bei dem Holpern den Kopf angestoßen und erwachte nun aus dem Schlaf der Erschöpften. Er war das lange Reisen nicht mehr gewohnt, die gelegentlichen Schlafeinheiten in der Kutsche erschöpften ihn beinahe mehr, als dass sie ihm neue Kraft spenden konnten.
Er hoffte, sie würden gen Abend bald weit genug gereist sein, um es sich zu erlauben, ein Lager aufzuschlagen und in einem Zelt zu nächtigen.
Große Hoffnung hegte er jedoch nicht, sie kamen nur langsam voran.
Gähnend richtete er sich etwas auf, um die müden und schmerzenden Gliedmaßen zu strecken. Auf seinen Wangen war bereits ein goldener Bartschatten