Der verborgene Erbe. Billy Remie
die Grenze zum Unangenehmen überschritt, damit ihn seine Gefährten nicht meiden mussten.
Die Vorhänge waren zugezogen, es war dämmrig im Inneren der Kutsche, gedämpft drangen die Hufschläge und das Rattern der Räder zu ihm hinein. Die Plätze neben ihm waren leer, schräg gegenüber von ihm saß Prinzgemahl Dainty. Der junge Mann hatte den dunklen Haarschopf gegen das andere Fenster gelehnt, seine Augen waren geschlossen, seine Lippen leicht geöffnet, ein Speichelfaden tropfte von seinem Mundwinkel auf den Kragen seines weißen Pelzumhangs.
Wexmell selbst schälte sich unter seinem dicken, schwarzen Wollumhang hervor, weil die Hitze um ihn herum unerträglich wurde. In Carapuhr war jeder Sommer recht mild, aber je weiter sie die Grenze hinter sich ließen, je deutlicher war die schwüle Hitze Elkanasais zu spüren.
Trotz steigender Temperaturen war in der Ferne Donnergrollen zu hören, dass bei jedem Mal näher klang. Regen prasselte zunächst leise auf das Dach der Kutsche, doch das Geräusch würde rasch zu einem lärmenden Trommeln.
Irgendwo, noch weit entfernt, brüllte ein Tier – zumindest nahm Wexmell an, es sei ein Tier – das er nicht einordnen konnte. Er vermutete einen Affen, er hatte schon einmal von ihrem ohrenbetäubenden Brüllen gelesen. Sie besaßen den passenden Namen: Brüllaffen, und sie waren berühmtberüchtigte Tiere des Regenwaldes, um den sich viele Mythen rankten.
Einerseits verspürte Wexmell tatsächlich Abenteuerlust, freute sich darauf, den sagenumwobenen Kontinent einmal mit eigenen Augen zu sehen, die tiefen Urwälder, die unbekannte Tierwelt, die Völker und ihre Demokratie. Andererseits fürchtete er sich vor Kämpfen.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er ohne Desiderius überleben musste.
Auch wenn er all jenen vertraute, die ihm beistanden, Desiderius hatte er immer ein Vertrauen entgegengebracht, das er nicht in Worte fassen konnte. Sie waren … Eins gewesen. Jetzt war er nur noch die Hälfte seiner Kraft, er konnte nur hoffen, dass dies genügte, denn er wollte nicht, dass Luro und Allahad starben, ehe sie Nohva erreichen konnten. Wexmell sah es als seine Pflicht an, als Freund und Prinz, seine treuen Gefährten zurück in die Heimat zu bringen. Nach allem, was sie für ihn getan und mit ihm durchgestanden hatten, war er es ihnen schuldig. Und jene Schuld würde er gewiss nicht vergessen.
Niemals.
Er würde sie nach Hause bringen.
Während Dainty schlief, rieb sich Wexmell die Müdigkeit so gut es ihm möglich war aus dem Gesicht und kramte anschließend in seinem Reisesack. Er trank einen Schluck aus seinem Wasserschlauch, nagte an einem Strang gepökeltem Fleisch und schlug das Buch auf, das er aus Carapuhr mitgenommen hatte.
Es war nicht so, dass er Karrahs Worten keinen Glauben schenkte, jedoch wäre er nicht er selbst, würde er sich nicht selbst davon überzeugen müssen, dass Bellzazar für ihn verloren war. Der älteste und loyalste Verbündete seiner Familie, der Mann, den Wexmell seit seiner Geburt kannte, der ihm das Kartenspielen – vor allem das Betrügen – beigebracht hatte, der ihn immer aufgemuntert hatte, ihm immer mit Rat und Tat Beiseite gestanden hatte, der ihm das Leben in Nohva gerettet hatte, dieser Mann, dieser enge Freund, sollte nun von einem Dämon besessen sein? Wexmell wollte nicht glauben, dass er nichts tun konnte. Auch wenn es in vergangenen Zeiten immer mal wieder Zwiespalt zwischen ihm und Bellzazar gegeben hatte – überwiegend wegen ihres Tauziehens um Desiderius‘ Moralansichten – , wollte Wexmell ihm in der Not helfen. Auch wenn Bellzazar es nicht als Not ansehen mochte, wie Karrah befürchtete, Wexmell fühlte sich gegenüber dem Halbgott ebenso verpflichtet wie gegenüber Luro und Allahad. Und er wusste, es hätte Desiderius viel bedeutet, dass es Bellzazar gut ging, dass er in Sicherheit war – und dass er für sich selbst keine Gefahr darstellte. Selbst wenn Karrah nicht helfen wollte – es als sinnlos erachtete, weil es für Bellzazar keine Rettung gab – würde Wexmell nicht aufgeben. Also las er, so viel er konnte, über dämonische Besessenheit bei Göttern und Halbgöttern. Doch das Buch war mehr ein theoretischer Ansatz, als eine echte Hilfe. Nichts als Mutmaßungen und Vorurteile waren darin aufgelistet. Trotzdem las er unbeirrt weiter, in der Hoffnung, doch noch etwas Nützliches zu finden.
Was hätte er während der langen Reise auch sonst tun sollen? Er musste sich davon ablenken, an all jene zu denken, die er verloren hatte. Allmählich verstand er mehr denn je Großkönig Melecays verzweifelte Wut auf alles und jeden, und seinen unbeirrbaren Wunsch, jeden Feind sofort zu töten. Und das machte Wexmell Angst. Er wollte niemals seine Prinzipien verlieren, ganz gleich wie übel das Schicksal ihm auch mitspielte.
Schwere Hufe trabten über die schnell aufgeweichte Straße heran, Regenwasser platschte, als Getrampel durch schnell anschwellende Pfützen zog. Wexmell hörte Zügel klimpern und Leder knirschen, als ein großer Reiter von seinem ebenso großen Ross hinabstieg und die schweren Stiefel auf das Trittbrett stellte. Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann stieg in die Kutsche, er ließ sich mit tropfnassen Kleidern und Haar neben Dainty nieder und sperrte das Unwetter aus, indem er eilig die Tür schloss.
Wexmell lächelte ihn über die Buchkante hinweg an. »Ist das Schweiß oder Regen, das Euer Gesicht nass macht, Großkönig Melecay?«
Melecay verzog missgelaunt das Gesicht und strich sich die Wassertropfen von der markanten Stirn. »Eine schreckliche Mischung aus beidem. Ich sah das Unwetter auf uns zu kommen und hoffte, es würde uns abkühlen, jetzt ist es jedoch noch schlimmer. Seit wann klebt Regen so? Seit wann sind Stürme so heiß?«
Sie waren noch nicht einmal in den Regenwäldern und schon litt Melecay unter der Hitze. Als geborener Carapuhrianer besaß der Großkönig eine angeborene dicke Haut gegen die Kälte in seinem Land, die ihm jetzt jedoch das Leben schwermachte. Was die Natur ihm einst schenkte, um zu überleben, zwang ihn nun fast in die Knie. Und in den nächsten Wochen würde es bestimmt nicht milder werden, im Gegenteil. Sie konnten letztlich nur hoffen, dass sich Melecays Körper schnell an das Wetter gewöhnte.
Aber nicht nur Carapuhrs Großkönig litt, auch Wexmell und seine Freunde würden sich erst einmal an das Wetter gewöhnen müssen. Die Hitze zerrte an ihnen wie ein Tornado an einem brüchigen Zweig. Nur Dainty und sein Bruder Janek, die in diesem Klima aufgewachsen waren, hatten keinerlei wetterbedingte Probleme, sie schwitzten auch nicht so stark wie alle anderen. Die Brüder waren nun durch ihre Herkunft im Vorteil. Außerdem waren sie die einzigen, die die Sprache fließend sprechen konnten und sich mit allerlei Sitten auskannten. Auch Wexmell war der Sprache der Elkanasai mächtig, jedoch strauchelte er gelegentlich, davon abgesehen vermieden die Elkanasai Kontakt zu allen Fremdlingen mit runden Ohren. Ohne Dainty und Janek hätten sie diese Unternehmung überhaupt nicht antreten können, die Brüder waren zunächst ihre einzige Chance, hier zu überleben. Im Regenwald würden sie sich auf ihre Kenntnisse verlassen müssen, ebenso in den Städten.
Während Wexmell las, spürte er Melecays durchdringenden Blick auf sich, doch er ließ sich durch die blauen Augen nicht ablenken. Während andere durch Melecays bloße Blicke meist schon in Panik gerieten, erreichten sie Wexmell selten. Er kannte den Großkönig, vom ersten Augenblick an hatte er die tief verletzte und verängstigte Seele hinter all der Wut und der Grausamkeit erkannt. Doch dies war nicht der einzige Grund, weshalb Wexmell gegen all seine Prinzipien verstoßen hatte, um ihn zu schützen.
Wexmell war nicht halb so dumm wie Bellzazar glaubte. Auch wenn er sich all die Zeit ahnungslos gegeben hatte, er würde die tief verwurzelte Stärke hinter jedem Blick immer erkennen. Es war für ihn immer offensichtlich gewesen, wer Melecay war, wessen Blut durch seine Adern floss. Trotz heller Augen und hellem Haar, war seine Statur, sein Stolz, seine Sturheit und seine innere Stärke – sein wahnwitziger Mut – nur mit der eines anderen großen Mannes vergleichbar.
Für Wexmell war stets offensichtlich gewesen, wessen Sohn Melecay wirklich war.
Doch er konnte und würde nie offenbaren, welch Geheimnis er hütete, denn er selbst trug Schuld daran. Er hatte es nicht über sich gebracht, seinen Fehler einzugestehen, weil er die Konsequenzen für sich gefürchtet hatte. Er hatte sich einst von Bellzazar manipulieren lassen, das musste er zugeben, doch obwohl er kein Feigling sein wollte und ihm Ehrlichkeit wichtig war, hatte er jenes Geheimnis mit ins Grab nehmen wollen. Nun blieb ihm ohnehin keine Gelegenheit mehr, reinen Tisch zu machen.